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Interview mit Dr. Gernot Jendrusch

Muskelspiel der Augen: So differenziert sehen wir beim Sport

Ob Spitzensportler oder Gelegenheitsjogger – sie alle legen ihre Alltagsbrille zum Sport vernünftigerweise zur Seite, aber auch unverständlicherweise keinen Wert auf eine besser geeignete und notwendige Korrektion ihrer Fehlsichtigkeit. Das kann Folgen haben. Sehen im Sport ist häufig noch immer ein Nischenthema. Zu Unrecht!

Sehen beim Sort - Sportarten 1

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Selbst Nicht-Augenoptiker wissen, dass gutes Sehen die Basis für die Motorik ist und eine unkorrigierte Fehlsichtigkeit im Sport das Verletzungsrisiko erhöht und die Leistungsfähigkeit mindert. Aber warum finden sich im Leistungssport trotzdem 20 Prozent korrektionsbedürftige Sportler und im Freizeitsport sogar 30 bis 35 Prozent? Sogar von den wissentlich Fehlsichtigen, die in Straßenkleidung Brille tragen, verzichten 35 bis 40 Prozent auf Kontaktlinsen beim Sport.

Schlecht sehende Sporttreibende sind in allen Altersklassen unterwegs. Die Quote steigt generell mit dem Alter, aber auch am Schulsport nimmt bereits jeder vierte Schüler ohne die nötige Korrektion teil (Zahlen: vision@sports, Fakultät Sportwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum).

Zur Arbeit eines Wissenschaftlers gehört es, auf Missstände aufmerksam zu machen, die rein wissenschaftlich nur schwierig zu belegen sind. So geht es auch Dr. rer. nat. Gernot Jendrusch, der als Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Aachen und der Hochschule Aalen für den Bereich Sportoptik/Sportoptometrie nicht müde wird, die Wichtigkeit guten Sehens im Sport zu betonen.

Wahrnehmungsfehler müssen keine Sehschwäche sein

Es ist häufig unmöglich, den Zusammenhang zwischen Sportunfall und schlechtem Sehen zu ermitteln. Selbst wenn offensichtlich eine nicht korrigierte Fehlsichtigkeit beim Verunfallten vorliegt, kann es möglich sein, dass der betreffende Unfall auch mit korrigierten Beteiligten passiert wäre. In diesem Zusammenhang muss zwischen Wahrnehmung und schlechtem Sehen unterschieden werden. Das macht auch eine Untersuchung der ARAG-Versicherung deutlich. Dabei kam heraus, dass rund 80 Prozent aller gemeldeten Skiunfälle des untersuchten Zeitraums auf Wahrnehmungsfehler zurückzuführen waren.

Sehen beim Sort - Sportarten 2

Das aber heißt nicht, dass hier eine Fehlsichtigkeit verantwortlich war. Versuche mit Skifahrern geben dahingehend Aufschluss, sind aber für Jendrusch ethisch grenzwertig, weil man das Verletzungsrisiko erhöhe, wenn man die Wahrnehmungsfähigkeit bei „Fahrversuchen“ künstlich herabsetze. Selbst Ski-Rennfahrer, die ihre Pisten „auswendig“ kennen, werden bei diesen Versuchen langsamer und gleichen die schlechtere Sicht muskulär aus. Letzteres birgt Gefahren und mindert die Leistungsfähigkeit.

Sportbrillen können zu Verletzungen führen

Beim Schulsport sprechen die Zahlen für sich: Im Berichtsjahr 2019 betrug der Anteil an Kopfverletzungen von insgesamt 408.871 meldepflichtigen Schulsport-Unfällen 15,3 Prozent, darunter Augenverletzungen mit 1,8 Prozent. Diese Zahlen sind nicht alleine deswegen relevant, weil einige der über 400.000 Unfälle vermutlich durch eine entsprechende Korrektur der Schüler hätten verhindert werden können. Es zeigt auch, dass bei der Korrektion einer Fehlsichtigkeit aufgepasst werden muss, denn auch Sportbrillen tragen mitunter zu Verletzungen bei.

Schulsport Brille für Kinder
Kinderaugen sollten vor allem beim Ball-Sport mit einer Schulsport Brille geschützt werden

Ein Thema, das Jendrusch und die Ruhr-Universität Bochum (RUB) in der Branche bekannt gemacht haben. Seit 2014 vergibt die RUB das Qualitätssiegel „Schulsport taugliche Brille“ auf Basis des sogenannten „ASiS-Anforderungskatalogs“ (www.schulsportbrillentest.de). Ein Projekt, das Jendrusch federführend entwickelt und begleitet hat und bis heute vorantreibt.

Timo Boll und der Spin des Balls

Aufgrund eines besonderen Verletzungsrisikos bei Tennis und Badminton und vor allem den Nischensportarten Squash und Wasserball empfehlen Augenärzte seit jeher Sport-Schutzbrillen. Aber auch bei anderen Sportarten, unabhängig davon, ob sie in der Schule betrieben werden, sind Augen und Gesicht gefährdet. Insbesondere bei einem zweikampfbetonten Sport kann es zu Verletzungen kommen. „Sportbrillen dürfen hier kein zusätzliches Risiko für Augen- und Gesichtsverletzungen darstellen, sagt Jendrusch, der bei seinen wissenschaftlichen Arbeiten viel mit Timo Boll zusammengearbeitet hat. Der Tischtennisprofi ist noch immer zur Weltklasse in seinem Sport zu zählen und ein prominentes, positives Beispiel dafür, wie wichtig gutes Sehen im Sport ist.

Tischtennis Sport - Timo Boll
Timo Boll, Deutschlands Aushängeschild im Tischtennis-Sport, wäre schlecht sehend sicher nicht in die Weltspitze vorgedrungen. Die schnellen Ballbewegungen trainieren einerseits das dynamische Sehen, setzen aber auch ein gutes Sehen voraus

Boll behauptet, dass er am Werbeaufdruck eines Tischtennisballes ablesen könne, was für einen Spin der Ball hat. Er will also an der Verschiebung des Stempels auf dem Ball erkennen können, ob und welchen Drall der Ball hat und wie schnell und in welche Richtung er fliegt. Und das im Sportler-Rentenalter von 41 Jahren. Bei Augenuntersuchungen am Lehrstuhl für Sportmedizin und Sporternährung der Ruhr-Universität Bochum und des Instituts für Augenoptik Aalen stellte sich heraus, dass Boll tatsächlich herausragend sieht. Jendrusch erinnert sich, dass „sein Bewegungssehen weitaus besser war als das seiner Teamkollegen“.

Binokularer Visus von 2,5

Boll verfügt über eine extrem gute Antizipationsfähigkeit, kann also Aktionen des Gegners besonders gut vorausahnen. Mit einem binokularen Visus von 2,5 und einem um den Faktor 2 besseren Bewegungssehen (im Vergleich zu den Durchschnittswerten von Nicht-Sportlern) ist Boll in der Lage, eine optimale Bewegungswahrnehmung mit präzisen Schlägen in einen engen Zusammenhang zu bringen. Der Tischtennis-Star hat das einmal so beschrieben: „Bei meiner Topspin-Vorhand streift der Ball den Belag des Schlägers nur ganz fein. Dafür muss ich den Ball mit den Augen exakt verfolgen, damit ich den Schlag ganz genau timen kann. Denn nur so bekommt der Ball die Rotation, die mich als Linkshänder besonders gefährlich macht.“

Boll wäre schlecht sehend sicher nicht zur Weltspitze im Tischtennis vorgedrungen. Doch das ist es nicht allein. Wie man sein Sehen trainieren kann und warum man je nach Sportart dynamisches Sehen und statisches unterschiedlich gewichten muss, erklärt Gernot Jendrusch genauer im nachfolgenden Interview. ///

 

 

„Männer, die schnelle Sportarten betreiben, haben häufig ein besseres dynamisches Sehen als Frauen.“

Interview mit Dr. rer. nat. Gernot Jendrusch von der Ruhr-Universität Bochum

eyebizz: Herr Dr. Jendrusch, ein Viertel aller Schüler nimmt fehlsichtig und ohne adäquate Korrektion am Schulsport teil. Selbst im Profisport gibt es eine ähnlich hohe Quote von schlecht sehenden Sportlern. Warum ist gutes Sehen im Sport so wichtig?

Dr. Gernot Jendrusch: Gutes Sehen ist eine Grundvoraussetzung, um optimal Sport zu treiben. Man fragt ja auch nicht, ob man sich vor einem Wettkampf oder dem Training aufwärmen muss. Sehschärfenminderungen führen selbst bei automatisierten Bewegungsabläufen zu Verschlechterungen in der Bewegungskoordination, etwa bei einer Kurzsichtigkeit. Um sicher, erfolgreich und mit Freude Sport ausüben zu können, ist gutes Sehen wesentlich – wobei man die unterschiedlichen Sportarten und die jeweils verschiedenen Anforderungen an das Sehen berücksichtigen muss.

Der Fechter muss also scharf sehen können, während der Schwimmer ruhig ohne seine korrigierende Brille ins Wasser gehen kann?

Die Sehschärfe ist nicht immer das Ausschlaggebende. Es gibt keine sportartspezifischen Unterschiede beim mittleren Visus von Sportlern. Aber gute Tennis- oder Tischtennisspieler sind z.B. blickmotorisch deutlich leistungsfähiger als Skifahrer oder Schwimmer. Schnelle Sportarten fördern das dynamische Sehen. Es ist aber andererseits ein Irrglaube, beim Schwimmen sei das gute Sehen nicht so wichtig. Natürlich, ein gutes Timing in der Bahn bekommen die guten Sportler hin, aber spätestens bei der Wende sind die schlecht Sehenden im Nachteil. Die Orientierung und das Entfernungs- und Raumsehen sind beim Schwimmen enorm wichtig. Zu Ihrer Frage: Die Sehschärfe ist nur ein Bestandteil des guten Sehens – und gerade beim Sport müssen wir das statische und das dynamische Sehen unterscheiden.

Das heißt, dynamisches Sehen ist wichtiger im Sport?

Dr. Gernot Jendrusch
Dr. rer. nat. Gernot Jendrusch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sportmedizin und Sporternährung der Fakultät für Sportwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Er betreut viele Nationalteams im Bereich „Sehleistung und Wahrnehmung im Sport“. Zudem ist er Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Aachen und der Hochschule Aalen für den Bereich Sportoptik/Sportoptometrie, Dozent beim Verband Deutscher Tennislehrer (VDT) sowie weiterer Fachverbände.

Das dynamische Sehen, also das Bewegungssehen und die Bewegungswahrnehmung, spielt zumindest eine bedeutendere Rolle bei schnellen Sport- und Rückschlagspielen, weil es dort leistungsbeeinflussend ist. Nehmen wir Tischtennis: Hier muss der Sportler den Ball und dessen Flugbahn regelrecht „lesen“ können. Nach dem auslösenden Reiz, der Bewegung, die auf der Netzhaut erzeugt und wahrgenommen wird, sorgt die Blickmotorik dafür, dass der Ball „eingefangen“ und gegebenenfalls im Blick gehalten werden kann. Das gelingt durch den Einsatz der Augenmuskeln.

Bei langsamen Ballgeschwindigkeiten in anderen Sportarten reicht für die Verfolgung einer Bewegung eine koordinierte Augen- und Kopfbewegung, um die Abbildung kontinuierlich im Bereich des scharfen Sehens zu halten. Bei schnellen Geschwindigkeiten reicht das nicht mehr aus, jetzt müssen zusätzlich sogenannte Sakkaden eingesetzt werden, um mit diesen schnellen, ruckartigen Blicksprüngen dem Ball weiter folgen zu können. In dieser Situation und immer dann, wenn es um Schnelligkeit geht, ist die koordinative Leistungsfähigkeit der Augenmuskeln von höchster Bedeutung.

Welche Anforderungen an das Sehen stellt der Sport allgemein?

Die Sehschärfe haben wir bereits angesprochen. Wie wichtig ein guter Visus ist, muss ich an dieser Stelle nicht erklären. Beim Sport geht es indes um einen „visuellen Mehrkampf“. Hier geht es um die Wahrnehmung, nicht mehr nur um die zentrale Sehschärfe. Und somit erhält beispielsweise auch das periphere Sehen eine deutlich größere Bedeutung. Beispiel Handball: Der ballführende Sportler kontrolliert die Bewegungen seiner Mit- und seiner Gegenspieler über das periphere Sehen und koordiniert daraufhin seine eigenen Bewegungen. Der Einfluss des peripheren Sehens auf die Qualität der Gleichgewichts- und Bewegungsregulation ist unstrittig. Außerdem sind das räumliche Sehen und die Tiefenwahrnehmung oft entscheidend für die Leistung eines Sportlers, der die Entfernung zum Tor oder die zur nächsten Slalomstange bestenfalls perfekt einschätzen können muss.

Kann man gutes Sehen trainieren?

Überall dort, wo Muskeln mit im Spiel sind, kann man sie trainieren. Kurz: die Akkommodation und blickmotorischen Leistungen sind trainierbar. Auch das räumliche Sehen, weil hier muskuläre Komponenten eine Rolle spielen. Aber dabei werden die Augenmuskeln nicht wie der Bizeps im Fitnessstudio in Bezug auf Kraft oder Muskelquerschnitt trainiert, sondern es geht vielmehr um das Zusammenspiel der Augenmuskeln, um die Koordination der Blickbewegungen, die Blicksprünge und Augenfolgebewegungen, die verbessert werden.

Solche Verbesserungen sind vermutlich schwierig, greifbar zu machen, es gibt auf der anderen Seite ja auch Sportler, die weniger gut sehen und trotzdem gute Leistungen erzielen.

Richtig, aber es gibt Beispiele, die die Effekte ganz gut dokumentieren: Männer, die schnelle Sportarten betreiben, haben z.B. häufig ein besseres dynamisches Sehen als Frauen. Sie haben oft eine höhere Muskelkraft und durch das häufige Üben mit höheren Ballgeschwindigkeiten und den damit verbundenen höheren Anforderungen an die Augenmuskeln, stellt sich auch eine messbar bessere Blickmotorik ein. Oder gehen wir in den Fußball, dort weisen Torhüter deutlich bessere dynamische Sehleistungen auf als Feldspieler. Sie werden positionsbezogen kontinuierlich vor größere dynamische Sehanforderungen gestellt und trainieren damit ihr Bewegungssehen.

Abschlussfrage: Sollte ein Sportler, der schlecht sieht, aber offensichtlich trotzdem Höchstleistungen erzielen kann, überhaupt noch korrigiert werden?

Grundsätzlich ja. Aber natürlich spielen hier Zeitpunkt und Zeitraum der Korrektion im Rahmen der sportlichen Aktivität, z.B. Wettkampf- oder Vorbereitungsphase, eine entscheidende Rolle. Die Diagnostik ist ja ohnehin nicht das Problem, sondern die anzustrebende gute Compliance.

/// Das Gespräch führte Ingo Rütten.

 

Fotos: Borussia Mönchengladbach, Siols, Ruhr-Universität Bochum

 

 

Grauer Star: erst Heilung, dann Sport

Sehen im Sport heißt nicht immer, dass man sein Sehen extra dafür präparieren sollte. Eine große Gruppe muss zeitweise den Wunsch nach sportlicher Aktivität dem Zustand der Augen unterordnen: Rund 800.000 Katarakt-Operationen werden in Deutschland im Jahr durchgeführt. Zwar werden die Betroffenen nach der Operation nicht nur beim Sport besser sehen können, doch ist unmittelbar im Anschluss an diese Operationen höchste Vorsicht beim Sport geboten.

Dr. Thomas Katlun
Dr. Thomas Katlun (Bild: Katlun)

Dr. Thomas Katlun, Leiter des Ressorts Sportophthalmologie im Berufsverband der Augenärzte Deutschlands e.V., mahnt deshalb und wirbt für „Umsicht und Durchblick beim Sport treiben“. Katlun betont in einer Presseinformation des BVA (Berufsverband der Augenärzte), dass „Heilung vor sportlicher Aktivität geht. Auch wenn die Katarakt-Operation nur ein kleiner Eingriff ist, sollte man dem Auge Ruhe gönnen. Mindestens bis zwei Wochen nach dem Eingriff sollte auf Besuche im Schwimmbad verzichtet werden.“ Hier geht es allerdings weniger um die sportliche Aktivität als um die Gefahr, die Augen einer Infektion auszusetzen.

Sportlich solle man nach der OP mit der Handbremse starten: „Wandern, leichtes Laufen, Fahrradfahren sind hier geeignete Aktivitäten. Auch statische Übungen aus dem Bereich des Yoga oder Pilates kann man sich schon zutrauen“, erklärt Katlun. Erst nach der Kontrolluntersuchung seien dann wieder alle Sportarten möglich: Laufen, Kraftsport, Ballsport. „Je nach Sportart ist das Tragen von Brillen, die das Auge vor Wind und Fremdkörpern schützen, ohnehin angeraten“, spricht der Augenarzt unserer Branche aus der Seele.///

 

 

Artikel aus der eyebizz 3.2022 (April/Mai)

 

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