Haus des Sehens Bonn: Augenoptik der nachhaltigen Art
von Dr. Jürgen Bräunlein,
Die Robinienstämme hat Uwe Hannig eigenhändig in sein Geschäft Haus des Sehens getragen, geschmirgelt und geölt – ein für Möbelbau untypisches Holz, verwendet für Spielplätze, weil es nicht splittert. Jetzt rückt es Brillen in der Bonner Altstadt ins rechte Licht.
Lange suchte der 46-jährige Augenoptikermeister nach den schönsten Nägeln, die er in die Stämme schlug, damit die Fassungen gut aufliegen. Der Inhaber von „Haus des Sehens“ hat eben seinen eigenen Kopf: „Ich mag Individualität und Originalität, keine vorgefertigten Brillenwände!“
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Was er für sein Geschäft wollte, ist Nachhaltigkeit. Aber nicht irgendwie oder ein bisschen, sondern konsequent. Qualitativ hochwertig, witterungsbeständig, edel – die Robinie ist eine ökologisch sinnvolle Alternative zu Tropenhölzern. Die Stämme für Bonn kommen aus Dülmen in Westfalen.
Die Brillen müssen unter Nachhaltigkeitskriterien gut abschneiden, sollen ökologische, soziale und ethische Standards erfüllen. Doch die Auswahl zu treffen, sei nicht leicht, die Recherche schwierig, nein, eine Quälerei!
Mangelnde Transparenz der Hersteller
„Mir bleibt nichts anderes übrig, als der Selbstauskunft der Anbieter zu vertrauen“, so Hannig. Doch die Transparenz lasse zu wünschen übrig. Warum werden die Produktangaben nicht einfach auf der Homepage offengelegt? „Bei der Suche nach passenden Herstellern waren Ausgaben der eyebizz hilfreich,“ sagt er augenzwinkernd. Die Gläser für seine Kunden werden in Deutschland produziert. Unternehmen, die sich Made in Germany groß auf die Fahnen schreiben, nachdem sie jahrelang billig im Ausland produzierten, beäugt er mit Misstrauen. Sie schwenkten doch bloß um, weil ihre Lieferketten zusammengebrochen sind!
„Hauptsache, sie machen es“, ruft Alma da dazwischen, die das Projekt „Nachhaltige Augenoptik“ ihres Gatten mit viel Wohlwollen und scharfer betriebswirtschaftlicher Analyse begleitet und selbst Geisteswissenschaftlerin ist. Beide führen entspannt, ja euphorisch durch das erst im letzten Jahr neueröffnete Geschäft.
Haus des Sehens: Stilmix mit viel Grün
In den 110 Quadratmeter großen Räumen mit vier Meter hohen Wänden gibt es nach Kernsanierung und Metamorphose viel zu sehen. Das Gebäude steht unter Denkmalschutz, vorher war eine Bilddruckerei drin, jetzt ist es eine Augenoptik der besonderen Art.
Neben den Robinienstämmen mit den ausgewählten Brillen finden sich selbstdesignte Lampen mit Porzellanfassung, gemütliche Polstersessel und zwei gegenüberstehende Tische, die sich zu einem großen Auge zusammenschieben lassen. Überraschend unkonventionell ist der Stilmix aus restauriertem Mobiliar, ersteigerten Fundstücken und selbst Entworfenem. Dazwischen gut versorgte Grünpflanzen, die sich sichtlich ihres Wachstums erfreuen.
„Mich wundert die mangelnde Kreativität im Ladenbau, überall derselbe Einheitsbrei. Ich wollte es anders machen“, sagt Hannig, der sich selbst als „Naturbursche“ bezeichnet. Es klingt ambitioniert, ein wenig besessen, wie von einem, der Kompromisse schmerzhaft findet. „Der Laden repräsentiert meine Persönlichkeit.“
Büffet mit Innenleben
„Viele, die reinkommen, sagen: Was für ein schöner Laden! Spätestens wenn sie das Büffet bemerken und Fragen dazu stellen, ist das Eis gebrochen“, erzählt Alma. Das edel aufbereitete Möbelstück enthält nicht nur Gläser und Goldrandgeschirr aus Großmutters Zeiten, sondern verbirgt auch einen ohne Strom betriebenen Kühlschrank und ein herausziehbares Schachbrett.
Getränke gehören zur Begrüßung der Kunden, die häufig nach Büroschluss kommen. Sie sind froh, wenn das Interieur dabei hilft, dass der Stress von ihnen abfällt. Draußen auf der Terrasse steht eine Liege, auf der schon mancher Kunde lag. So entsteht eine vertrauensvolle Atmosphäre, die Sehberatung ohne Zeitdruck möglich macht und Menschen zum Reden bringt.
„Meine Kunden verstehen, dass ich bestimmte Dinge nicht aus Neugierde frage, sondern weil sie Einfluss auf den Sehprozess haben. Etwa wenn ich mich erkundige, ob sie Medikamente nehmen, was sie beruflich machen, ob sie Sport treiben oder sich in einer besonders stressigen Situation befinden.“
Kunde thront vor alter Malerstaffelei
Bei der Augenglasbestimmung thront der Kunde auf einem extravaganten Sessel mit hoher Rückenlehne, der Sehzeichen-Monitor vor ihm steht auf einer Malerstaffelei aus dem 19. Jahrhundert. Als Anhänger der Funktionaloptometrie achtet Hannig akribisch auf die richtige Körperhaltung. Der Sessel hat keine Seitenlehnen, um Ungenauigkeiten bei der Nahprüfung zu vermeiden, der Fehlsichtige muss locker und entspannt sitzen.
Gerne zeigt Hannig die einzelnen Arbeitsschritte seines Handwerks. Gemeinsam mit seinem Kunden sitzt er dann im Werkstattbereich hinter dem offenen Tresen. Der Kunde beobachtet, wie der Augenoptiker die Gläser ausmisst, schleift, abkantet, einsetzt, ausrichtet, sieht wie die geschliffenen Gläser dünner werden, erlebt seinen Aha-Effekt, wenn er schließlich die fertige Brille aufsetzt.
„Das ist mehr als eine gläserne Werkstatt. Die Kunden können auch selbst mal eine Schraube anziehen oder ihren Finger ins Ultraschallbad stecken. Das sind Kunden für die Ewigkeit“, schwärmt Hannig, weiß aber auch, dass nicht jedem Augenoptiker diese Art der intensiven sozialen Kommunikation liegt.
Das Handwerk ist zurückgekehrt
„Das ist natürlich eine Nische“, sagt Alma, „doch in der Bonner Altstadt funktioniert es: Ein Multikulti-Viertel mit linksliberalem Bürgertum und ästhetischen Ansprüchen, das auf Nachhaltigkeit achtet und das Handwerk zu schätzen weiß.“ Auch ist Hannigs Neueröffnung der erste Augenoptiker in dieser Ecke der Altstadt, den es je gegeben hat, vor Jahrzehnten war hier ein Schuster untergebracht. So schließt sich der Kreis: Das Handwerk ist zurückgekehrt.
Wer hier lebt, kommt zudem in einen ganz besonderen Genuss: Unzählige Kirschbäume verwandeln jedes Jahr im Frühling die Bonner Altstadt in ein rosa Blütenmeer, das große Finale findet im April direkt vor dem „Haus des Sehens“ in der Heerstraße statt. Durch die trichterförmigen Kronen der japanischen Nelkenkirsche entsteht ein traumhafter rosa Kirschblütentunnel, gepflanzt in den 80er-Jahren in der Altstadt als Teil einer umfassenden Stadtteilsanierung.
25 Jahre hat Uwe Hannig als Augenoptiker gearbeitet. Während seines Studiums zum Bachelor of Science vor zwei Jahren merkte er, dass er nicht mehr angestellt arbeiten will. Denkbar wäre gewesen, mit dem Abschluss im Ausland zu arbeiten. Doch durch die Pandemie und ein attraktives Jobangebot in Bonn für Alma bekam die Idee vom eigenen Laden mächtig Auftrieb.
Nur Neugründung kam in Frage
„Ich wollte kein Geschäft übernehmen, wo ich vorgegebene Strukturen übernehme und mich wieder verbiegen muss. Nur eine Neugründung kam in Frage.“ Ein knappes Jahr hat er für Finanzierung, Planung und Umsetzung gebraucht. Dabei ging er voll ins Risiko, da er keinen großen finanziellen Puffer hatte.
Bei der Ladeneröffnung im September letzten Jahres waren die Hannigs zunächst ein wenig panisch. Denn was bis heute fehlt, ist Webpräsenz. „Wir haben schon eine digitale Strategie“, sagt Alma, „mussten aber Prioritäten setzen, und eine vorläufige Not-Internetseite wollten wir nicht.“ Trotzdem lief das Geschäft von Beginn an gut.
Die meisten Kunden kommen aus der Altstadt, vereinzelt auch von weiter her. Hannigs fachliche Kompetenz und seine entschleunigte, sorgfältige Vorgehensweise haben sich schon herumgesprochen. Auch viele Jüngere wollen seine Beratung, sympathisieren mit dem Nachhaltigkeitskonzept und haben keine Lust auf Maßkonfektion und Massenabfertigung.
Eine Herausforderung sei, gutes Personal zu finden. Noch ruht das Geschäft allein auf Uwe Hannigs Schultern, auf Dauer könne das nicht bleiben. Am liebsten würde er eine*n Auszubildende*n anstellen, gern auch jemanden, der mittendrin in der Ausbildung ist und vielleicht wegen Umzug oder aus privaten Gründen wechseln möchte.
Mit dem Fahrrad ins Geschäft
Derjenige sollte das Nachhaltigkeitskonzept verinnerlichen, es vielleicht auch ein bisschen leben wie Uwe Hannig, der täglich mit dem Fahrrad ins Geschäft kommt. Demnächst wird er ein eigenes Brillenlabel vertreiben, dass seinen strengen Nachhaltigkeitskriterien genügt.
Wichtig ist ihm die Balance zwischen Privat- und Berufsleben. „Wer ein eigenes Geschäft eröffnet, arbeitet in den ersten Monaten immer mehr als 100 Prozent. Am Anfang muss das so sein, auf Dauer ist es ungesund. Wenn ich gestresst und angespannt bin, überträgt sich das auf die Kunden.“
Den notwendigen Ausgleich holt sich der Crosstriathlet und Langstreckenschwimmer beim Sport. „Das gibt mir innere Ruhe, neue Ideen und erhält meine Leistungsfähigkeit.“ Dass die gesamtwirtschaftliche Situation mit Ukrainekrieg, Inflation und Corona-Pandemie ungewiss bleibt, macht ihm hingegen wenig Sorgen.
„Verunsicherung ist immer schlecht, aber besondere Herausforderungen führen oft zu Innovationen. Ich denke, unser Geschäft ist auch für kommende schwierige Zeiten gut aufgestellt.“ Im September, ein Jahr nach der Eröffnung, wird es dann auch einen Internetauftritt geben.