Für die meisten von uns dürften Sehen und Hören die wichtigsten Sinne sein, könnte man vermuten. Wirklich wissenschaftlich untersucht wurde die Einstellung der Menschen zu den verschiedenen Sinnen bisher kaum. Studien und Umfragen haben versucht, Licht ins Dunkel zu bringen, und die Prioritäten hinterfragt.
Studie aus Großbritannien
So befragten Forscher der City University of London in diesem Jahr einen Querschnitt von 250 Erwachsenen aus der britischen Öffentlichkeit, wie hoch sie die einzelnen Sinne untereinander bewerteten. Die Studie wurde im JAMA Ophthalmologie veröffentlicht und ergab, dass Sehen als am wertvollsten eingestuft wurde, gefolgt von Hören.
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Wider Erwarten kam an dritter Stelle das Gleichgewicht, noch vor den „klassischen“ Sinnen Tasten, Schmecken und Riechen (vierter, fünfter und sechster Platz), gefolgt von Schmerzempfinden und Temperaturgefühl. Es wird vermutet, dass Gleichgewichtsstörungen Schlüsselfaktor für eine verminderte Lebensqualität sein können, da sie für die Mobilität und die täglichen Aktivitäten von Bedeutung sind, und deshalb ein guter Gleichgewichtssinn so sehr geschätzt wird.
Lieber fünf gesunde Jahre weniger als zehn Jahre blind sein
Außerdem wurde noch ein TTO-Test gemacht (Time-Trade-off), um die Auswirkungen einer Erkrankung auf die Betroffenen einschätzen zu können. Hier sollten die Teilnehmer die Situation von zehn Lebensjahren ohne Sehvermögen mit unterschiedlichen Zeitabständen bei perfekter Gesundheit (10 bis 0 Jahre) vergleichen. Die Befragten wählten durchschnittlich lieber 4,6 Jahre vollkommener Gesundheit als zehn Jahre mit vollständigem Sehverlust, bzw. würden eher 5,4 Lebensjahre mit vollkommener Gesundheit opfern, um zehn Jahre Blindheit zu vermeiden. Beim Hören waren den Teilnehmern 6,8 Jahre vollkommener Gesundheit lieber als zehn Lebensjahre mit vollständigem Hörverlust (bzw. 3,2 topfit versus zehn Jahre taub).
Bei dieser Bewertung sei jedoch zu beachten, dass die Urteile möglicherweise aufgrund begrenzter Informationen und Erfahrungen beruhten, wie sich ein sensorischen Verlustes auswirken könnte, und eventuell anders ausfielen, wenn weitere Informationen zum Leben mit der Einschränkung vorhanden wären. Denn: Befragte mit einer chronischen Erkrankung oder einer familiären Vorbelastung mit sensorischen Verlusten hätten das Leben mit Hörverlust z. B. als weniger belastend empfunden als diejenigen ohne sensorische Verluste. Familienstand, Bildungsstand und Religion hätten den Autoren zufolge keine signifikanten Auswirkungen auf die Wahl der Befragten in der Online-Umfrage gehabt.
Betroffene richtig ansprechen und unterstützen
David Crabb ist Professor für Sehforschung und Statistik an der City University of London und Direktor des Crabb Lab, und leitete die Studie. Sein Kommentar: „Es ist wichtig zu verstehen, welche Wahrnehmungen und Ängste die Öffentlichkeit und die Patienten haben, wenn es um den Sinnesverlust geht, da dies darüber Auskunft geben kann, wie Angehörige der Gesundheitsberufe sie bei einem solchen Verlust ansprechen und unterstützen sollten.“
Auch wenn sich sensorische Verluste extrem nachteilig auswirken könnten, sei es laut Crabb wichtig, die Bevölkerung darüber zu informieren, wie man damit umgehen und sich anpassen könne. So habe z.B. eine Studie über die altersbedingte Makuladegeneration (AMD), die häufigste Erblindungsursache in Großbritannien, ergeben, dass Anleitung und Beratung des behandelnden Arztes eine Schlüsselrolle dabei spielten, wie die Erkrankten die Auswirkungen der AMD auf ihr tägliches Leben wahrnehmen würden und wie sich die Erkrankung weiter entwickele.
Sehen für 70 Prozent der Deutschen am wichtigsten
Einer repräsentativen YouGov-Umfrage im Auftrag der DEVK Versicherungen zum „Stell-dich-deinen-Ängsten-Tag“ Anfang Oktober unter mehr als 2.000 Bundesbürgern ab 18 Jahren zufolge legten die meisten Befragten vor allem Wert aufs Sehen, geistige Fähigkeiten und Hören.
Sehen besonders für Frauen und Gutverdiener unverzichtbar
Das Meinungsforschungsinstitut untersuchte, welche körperlichen Fähigkeiten den Deutschen besonders wichtig seien. Auch hier an erster Stelle: das Sehen. 70 Prozent der Befragten wollen darauf am wenigsten verzichten. Frauen (74 Prozent) legten dabei deutlich mehr Wert aufs Sehen als Männer (66 Prozent). Und Befragte mit einem Haushaltseinkommen über 5.000 Euro sahen ihr Augenlicht als besonders wichtig an (84 Prozent).
Geistige Fähigkeiten nur auf Platz zwei
Auch bei dieser Befragung gab es Anlass zum Wundern: Nur gut die Hälfte der Befragten (55 Prozent) hielten geistige Fähigkeiten wie Gedächtnis und Konzentration für vorrangig. Ähnliche Zustimmungswerte gab es fürs Hören (54 Prozent) und Sprechen (51 Prozent). Gehen sei für 42 Prozent der Deutschen entscheidend. Eigenverantwortliches Handeln – also, dass man selbst geschäftsfähig ist und keinen gerichtlich bestellten Betreuer brauche – stand dabei nur für 40 Prozent auf der Prioritätenliste.
Die Befragten konnten von 16 Fähigkeiten höchstens fünf als besonders wichtig benennen. Immerhin 33 Prozent wollten auf jeden Fall ihre Hände gebrauchen können. Noch nicht mal jeder Sechste habe sich hier für den Gleichgewichtssinn entschieden, die Orientierung, den Gebrauch der Arme oder das Autofahren. Weit abgeschlagen landen Stehen, Treppensteigen, Sitzen, Knien und Bücken sowie Heben und Tragen.
Elementare Fähigkeiten versichern
Der Umfrage zufolge stellen sich nur acht Prozent der Deutschen ihren Ängsten, indem sie sich gegen Risiken versichern, z. B. mittels einer Berufsunfähigkeitsversicherung, die für Erwerbstätige zu den wichtigsten Policen gehöre. Viele Menschen schreckten jedoch vor den Kosten zurück.
Warum ist Sehen so wichtig?
Auch der Regensburger Psychologe Fabian Hutmacher hat die Frage nach dem wichtigsten Sinn gestellt. Auch hier benannte der Großteil der Befragten das Sehen. Der bedeutendste Sinn scheint demnach der Sehsinn zu sein – sowohl in westlichen Gesellschaften als auch in der Forschung. Aber woran liegt das? Das wollte Hutmacher genauer wissen und veröffentlichte seine Erkenntnisse in der Fachzeitschrift Frontiers in Psychology.
Wie wird Wichtigkeit definiert?
Sehen ist für uns heutzutage sicher von großer Bedeutung. Aber ist es auch der wichtigste Sinn? „Ganz so einfach ist es wahrscheinlich nicht“, findet Psychologe Hutmacher. „Denn man muss erst mal festlegen, woran man die Wichtigkeit festmacht. Unsere Gesellschaft ist beispielsweise gut darauf ausgerichtet, blinde Menschen zu unterstützen. Jemand der blind ist, kommt daher meist relativ gut im Alltag zurecht. Aber stellen Sie sich vor, Sie hätten keinen Tastsinn mehr. Sie würden zum Beispiel nicht merken, wann Sie beim Hinsetzen die Sitzfläche des Stuhls erreichen und Sie könnten keinen Schmerz empfinden. Tatsächlich haben Menschen, die keine Schmerzen wahrnehmen können, eine geringere Lebenserwartung. Das gilt für Blinde nicht. Für das Überleben in unseren heutigen Gesellschaften ist der Tastsinn also vielleicht sogar wichtiger als der Sehsinn. Das bedeutet nicht, dass Sehen definitiv nicht der wichtigste Sinn ist, aber es bedeutet, dass man über den Begriff der Wichtigkeit zumindest diskutieren kann.“
Was bedeutet Komplexität?
Sehen gelte nicht nur als besonders wichtiger, sondern auch als komplexester Sinn, für dessen Verarbeitung im Gehirn viel größere Areale befasst seien als für Reize anderer Sinnessysteme.
Aber: „Untersuchungen aus den vergangenen Jahren und Jahrzehnten haben gezeigt, dass die Informationen aus verschiedenen Sinneskanälen weniger strikt getrennt als vielmehr sehr vernetzt verarbeitet werden – und dass scheinbar auf die Verarbeitung visueller Informationen spezialisierte Hirnareale auch bei der Verarbeitung anderer Sinneseindrücke eine wichtige Rolle spielen.“
Komplexität könne man auch anhand der Größe des Sinnesorgans definieren – hier führe z. B. der über die ganze Körperoberfläche verteilte Tastsinn – oder anhand der Anzahl verschiedener Sinnesrezeptoren. „Im Auge haben wir nicht so viele verschiedene Rezeptoren, nur Stäbchen für das Sehen im Dunklen und drei verschiedene Arten von Zapfen für das Farbsehen. Für das Riechen hingegen gibt es hunderte verschiedene Rezeptoren. Das heißt wiederum nicht unbedingt, dass das Riechen komplexer ist als das Sehen. Es zeigt aber, dass es andere Kriterien gibt, nach denen man die Komplexität gewichten könnte“, so Hutmacher.
Hat mehr Sehforschung strukturelle Gründe?
Der Psychologe sei sich deshalb sicher, dass es noch andere Gründe geben muss, warum sich die Forschung so sehr mit dem Sehen befasse, während andere Sinne eher am Rande behandelt werden. Eine weitere Erklärung könnte strukturell-methodischer Natur sein. Zum einen sei die Untersuchung der anderen Sinne meist mit mehr Aufwand verbunden. „Es ist zum Beispiel schwieriger, kontrolliert einen Geruch darzubieten als ein Bild zu zeigen“, so Hutmacher.
Zum anderen könnte seiner Meinung nach der sogenannte Matthäus-Effekt greifen: „Wer Forschungsgelder beantragt, muss begründen, wozu er die Mittel benötigt. Da es bereits viel Forschung zum Visuellen gibt, schätzen die Geldgeber dieses Thema als wichtig ein. Themen, die bisher nicht stark im Fokus der Wissenschaft waren, erscheinen dagegen als weniger relevant, da sie ja bisher nicht so intensiv erforscht wurden.“
Visuelle Prägung ein kulturelles Phänomen?
Aber Hutmacher hat noch eine weitere Erklärung für die Dominanz des Sehsinns in der Forschung entdeckt – eine kulturelle: „Wir leben in einer sehr visuell geprägten Kultur. Überall gibt es Bildschirme, beispielsweise als Smartphones, Fernseher oder Infoscreens. Gerade der digitale Wandel hat das Visuelle in den letzten Jahren noch stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt.“
Interessanterweise aber sei die Dominanz des Visuellen weder eine historische noch eine kulturelle Konstante. Zum einen ließe sich zeigen, dass sich das Gewicht des Visuellen in westlichen Gesellschaften schon seit dem Mittelalter verstärkt hat. Zum anderen gebe es nicht-westliche Kulturen, in denen andere Sinne als das Sehen die Hierarchie anführten.
Seine hohe Relevanz möchte Hutmacher dem Sehsinn nicht absprechen. Trotzdem plädiere er dafür, in der Forschung auch die anderen Sinne stärker zu beachten. Auch in Zukunft möchte er die Sinnesmodalitäten erkunden, auch wenn die Menschen oft sehr auf das Rationale und Intellektuelle bedacht seien. (Quelle: Universität Regensburg – Originalpublikation: Fabian Hutmacher, „Why Is There So Much More Research on Vision Than on Any Other Sensory Modality?” Frontiers in Psychology 2019.)