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„Jedes Kind zählt und jede Dioptrie“

Zeiss jetzt auch mit Myopie-Glas

Lange mussten Fachleute hierzulande auf eine Lösung fürs Myopie-Management aus dem Hause Zeiss warten. Ob sich das Warten gelohnt hat, vermag noch niemand zu beantworten. Zumindest dann nicht, wenn man nur die derzeitigen und die zu erwartenden Fallzahlen für eine Beurteilung heranziehen möchte. In jedem Fall ist die Herangehensweise der Aalener eine besondere.

Zeiss MyoCare
Zeiss MyoCare (Bild: Zeiss)

Der Zeiss „AfterWorkTalk“ im Rahmen des „Blickpunkt 2023“ im Februar dieses Jahres wurde vor allem deswegen mit Spannung erwartet, weil der Brillenglas-Hersteller aus Aalen nun auch für Deutschland ein Brillenglas zur Myopie-Kontrolle vorstellte. Immerhin hat das Unternehmen manchem Mitbewerber gegenüber vermutlich einen kleinen Wissensvorsprung in Sachen Myopie-Management, der durch die Forschung in Asien – speziell China – und das bereits seit einem Jahrzehnt dort verkaufte Produkt zustande kommt. Trotzdem tat sich das Unternehmen offensichtlich eher schwer, bei uns mit einer eigenen Lösung an den Markt zu gehen.

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Die „Myocare“ genannte Lösung, eine fortschreitende Kurzsichtigkeit abzubremsen, kommt tatsächlich spät. Aber nicht, weil das Produkt bislang keine Wirkung zeigte, sondern vermutlich vielmehr, weil die Aalener bisher die Notwendigkeit eines Myopie-Managements angesichts der unterschiedlichen Verhältnisse in Asien und in Europa offen hinterfragten und damit auch ein Fragezeichen hinter die entsprechende Dienstleistung setzten. Ob getrieben durch die Produkt-Launches anderer oder die Fortschritte in der eigenen Forschung: Seit 1. April bietet man auch in Deutschland ein entsprechendes Brillenglas an.

Beim Deepdive des virtuellen Kundenevents „Blickpunkt 2023“, das vom 13. bis 15. Februar stattfand und Neuigkeiten, An- und auch Einsichten aus der Zeiss-Zentrale präsentierte, stand das Myopie-Thema im Mittelpunkt. Dr. Arne Ohlendorf aus der Forschungs- und Entwicklungsabteilung des Unternehmens informierte die Online-Teilnehmer über den neuesten Stand der Wissenschaft, nicht ohne zu erwähnen, dass Kinder hierzulande immer noch deutlich mehr Zeit draußen unter freiem Himmel verbrächten als in China und dass sie hier auch viel weniger Naharbeit zu verrichten hätten.

Trotzdem: „Jedes Kind zählt und jede Dioptrie“ lässt sich Dr. Katharina Breher zitieren. Sie ist Wissenschaftlerin mit Schwerpunkt Physiologische Optik am Zeiss Vision Lab an der Universität Tübingen und sagt: „Jeder Zehntelmillimeter Augenlänge, der vermieden werden kann, sollte vermieden werden.“

Arne Ohlendorf ordnet ein

Breher und Ohlendorf widersprechen sich nicht, Ohlendorf ordnet nur ein. Schnell kam er auf einen wesentlichen Unterschied der Aalener Herangehensweise bei der Lösung des Problems zu sprechen: auf die sogenannten Perzentilkurven. Sie verdeutlichen nicht nur den Unterschied der Augen-Entwicklungen z.B. in China und Deutschland. Sie geben als statistische Größe auch das Maß vor, wann bei einem Kind ein Myopie-Management nötig ist, wann es also ein Brillenglas wie „Myocare“ braucht. Laut Ohlendorf ist dieses Maß ab dem 75. Perzentil erreicht.

Die Einschätzung für oder gegen ein Myopie-Management kann im individuellen Fall komplex sein. Die Unterscheidung zwischen physiologischem, also normalem Augenwachstum im Laufe der Emmetropisierung, und einem behandlungs-bedürftigen Wachstum ist wichtig, erklärt Ohlendorf. Die Perzentilkurven sollen bei der Beobachtung des Wachstums über mehrere Monate die Risikoabschätzung der Progression eines jeden Kindes vereinfachen. Breher ergänzt: „Ob ein Kind eine fortschreitende Myopie hat, erkennt man, wenn man seine Werte in passenden Wachstumskurven mit Normkurven aus der Bevölkerung vergleicht. Diese Perzentile beschreiben die statistische Verteilung von Werten für definierte Altersgruppen in einem Land.“

Daten wichtig zur Klassifikation

Liegt demnach die Augenlänge beim 50. Perzentil, so spricht man von Durchschnitt und von einem normalen Wachstum des Auges. Ist es länger und liegt etwa im 97. Perzentil, dann gehört das betroffene Kind zu den drei Prozent der Bevölkerung, bei denen das Augenlängenwachstum vermutlich extremer verläuft. Zeiss gab beim Event Einblicke in die Perzentilkurven für die Refraktion und für die Progression der Refraktion. Eine Entwicklung des Auges und damit auch sein Wachstum ist auch bei emmetropen Heranwachsenden vorhanden und dort natürlich völlig normal.

Diese Art von Daten seien also enorm wichtig zur Klassifikation der Kinder und für die Entscheidung, ob es ein Myopie-Management braucht oder nicht. Welch ein Unterschied beispielsweise zu dem Konzept, das Rodenstock nur wenige Wochen zuvor vorgestellt hatte: Das „Mycon“ aus München soll salopp ausgedrückt ohne jede Messung und damit auch ohne Management jedem kurzsichtigen Kind angepasst werden.

Zeiss MyoCare Design
Das Glasdesign von Zeiss MyoCare (Bild: Zeiss)

Ungeachtet dessen kommt auch Zeiss mit einem besonderen Glasdesign daher, das wie so oft im Namen des Produktes steckt: „MyoCARE“: cylindrical annular refractive elements. Eingedeutscht erklärte Dr. Judith Ungewiß aus dem Produkt-Management des Unternehmens Namen und Wirkungsweise der „neuesten Generation von Myopie-Brillengläsern”, die man laut eigener Aussage zudem als erster Hersteller in „klassischen und bewährten Materialien“ und damit nicht in Polycarbonat anbietet. „Myocare“ setze anhand von Mikrostrukturen einen sogenannten „simultanen Defokus für das periphere Sehen“.

In der Mitte des Brillenglases gibt es eine sieben Millimeter große Fläche, die normales Sehen ermöglicht und das Licht nach der Brechung wie bei einem Einstärkenglas auf der Netzhaut bündelt. Um diese korrigierende Fläche herum sind weitestgehend unsichtbare konzentrische Kreise mit alternierender Stärke als „konkurrierende Korrektionszonen simultan mit Korrektionszonen“ eingearbeitet. Ungewiß: „In der Peripherie wird also ein Fokus auf der Netzhaut und gleichzeitig ein myoper Defokus erzeugt. Das hilft gegen das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit noch besser als ein kontinuierlicher Defokus in der Peripherie.“

Zeiss-Prinzip vergleichbar mit Ortho-K

Ein bisschen vergleichbar ist dieses Prinzip mit der Wirkungsweise einer Ortho-K-Linse beim Myopie-Management, wenngleich beim Brillenglas die Bewegung des Auges hinter dem Glas eine zusätzliche Herausforderung darstellt. Die patentierte Technologie aus Aalen vermeide den hyperopen Defokus für alle Blickrichtungen, wofür das Unternehmen eine zweite Technologie nutzt: „ClearFocus“ optimiere diesbezüglich die Freiform-Rückseite des Brillenglases.

„Progressive Myopie verlangt besonders hohes Verantwortungs-Bewusstsein, denn mit ihrem professionellen Management werden die Weichen für das Sehen als wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung der Kinder gestellt, sagt Ohlendorf. Zeiss betont wohl auch deswegen, dass Forschung und Zusammenarbeit mit universitären wie außeruniversitären Forschungs-Einrichtungen und Augenkliniken weiterhin ein wesentlicher Bestandteil der hauseigenen Entwicklungen fürs Myopie-Management blieben.

Und genauso bleibt man in Aalen trotz des Launches des neuen Produktes in der Kommunikation eisern, was auch in Mannheim bei der Optics Conference zum Thema Myopie-Management diskutiert werden wird (siehe Vorschau in der eyebizz-Ausgabe 3.2023): So sei es zwar „empfehlenswert, Myopie-Management als zusätzliche Dienstleistung in Europa aufmerksam in den Blick zu nehmen. Zugleich gilt, dass in Europa kurz- und mittelfristig nicht zu erwarten ist, dass hohe Fallzahlen in den augenoptischen Fachgeschäften auftreten.“

/// IR

 

Artikel aus der eyebizz 3.2023 (April/Mai, Erscheinungstermin: 21. April)

 

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