Eine neue Wir-Kultur: So geht Zusammenarbeit heute
von Ulrike Stahl,
Unsere Arbeitswelt ist komplexer und vernetzter denn je. Das bringt neue Herausforderungen. Unternehmen versuchen, ihre Organisation anzupassen. Im Wesentlichen mit Matrixstrukturen und Projektarbeit. Doch das allein scheint nicht auszureichen. Guerillakämpfe zwischen Abteilungen, Boykotte zwischen CEO und Führungskräften sind sicher nicht die Regel. Fehlende Abstimmung und mangelnder Informationsfluss aber schon. Eine neue Form der Wir-Kultur ist gefragt.
„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind“, das sagte schon Albert Einstein. Die alten Denkweisen, denen wir noch immer zutiefst verhaftet sind, lauten Wettbewerbsdenken und Arbeitsteilung – und die stammen aus dem Industriezeitalter. Heute stehen wir mit beiden Beinen im Wissenszeitalter und das erfordert nicht nur neue Methoden und Organisationsformen, sondern einen neuen Mindset, wie folgendes Beispiel aus einem Unternehmen zeigt.
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Es ist nicht alles so, wie es scheint
In einem internationalen Seminar für Führungskräfte sprechen wir darüber, wie die abteilungsübergreifende Zusammenarbeit in Unternehmen gefördert werden kann. Der 33-jährige Khalid ist Einkaufsleiter am sehr traditionell geprägten deutschen Standort eines internationalen Unternehmens. Er berichtet von einem täglichen 9-Uhr-Meeting aller Abteilungsleiter. Dort werden aktuelle Informationen ausgetauscht, Probleme besprochen und sofort nach Lösungen gesucht. Alle sind sich einig, dass das eine gute Maßnahme ist.
In der Pause kommt Khalid etwas zögerlich auf mich zu. Ich frage ihn: „Was kann ich für dich tun?“. Er kommt noch einmal auf das 9-Uhr-Meeting zurück: „Leider läuft es nicht so toll, wie es klingt.“ Er beschreibt sehr anschaulich, dass sich bei Problemen regelmäßig drei der langjährigen Abteilungsleiter innerhalb von fünf Minuten anschreien und, statt nach Lösungen zu suchen, sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe schieben. Schlimmer noch, es wurde bereits ein Workshop durchgeführt, um dieses Verhalten zu reflektieren. Dort wurden klare Vereinbarungen getroffen, und trotzdem fallen die Kollegen immer wieder auf dieses Kompetenzgerangel zurück. Khalid fragt, was er tun soll. Er hat bereits in vielen Ländern gearbeitet und kann sich gut anpassen. Er hält das zwar nicht für so sinnvoll, aber soll er eventuell auch schreien?
Führungskultur als Wettbewerbstreiber
Spannend auch, was die weitere Analyse ergibt: Das tägliche 9-Uhr-Meeting durchzuführen, ist eine Vorgabe des Konzerns. Die Idee dahinter macht absolut Sinn, denn so wird der Informationsfluss gefördert, und auf Probleme kann schnell reagiert werden. Ein zentrales Instrument agilen Arbeitens. Wie sich zeigt, funktioniert genau das aber nicht, wenn die Beteiligten noch in alten Denk- und Verhaltensmustern verhaftet sind. Die kommen dann zum Vorschein, wenn der Druck hoch ist. Was nüchtern betrachtet absolut einleuchtet und als wünschenswert bezeichnet wird, spielt plötzlich keine Rolle mehr, „wenn es darauf ankommt“. Dann übernimmt der Wettbewerbsmodus die Führung und der heißt, einer gewinnt und viele verlieren.
Ein weiterer Wettbewerbstreiber ist die Führungskultur. Wie sich auch herausstellt, ist der Standortleiter noch vom „alten Schlag“. Wenn die Dinge nicht laufen, erhöht er einfach den Druck auf den Einzelnen und spielt die Abteilungen schon mal gegeneinander aus. „Wir wissen doch, dass die in der Entwicklung keinen Plan haben. Da müsst Ihr in der Produktion jetzt mal Euer Ding machen.“ Wie seine Abteilungsleiter zum Ziel kommen, ist ihm egal. Hauptsache, die Zahlen stimmen zum Quartalsende. Konkurrenz belebt ja das Geschäft. Das ist ein Grundsatz, der im Zeitalter der Industrialisierung entwickelt wurde und sehr lange wirtschaftlichen Erfolg bescherte. Heute macht Konkurrenz, insbesondere die interne, das Geschäft kaputt.
Zusammenarbeit auf einem neuen Niveau
Einzelkämpfertum und Ich-bezogene Machtspiele sorgen dafür, dass alle verlieren. Komplexe Herausforderungen können nur durch Zusammenarbeit auf einem neuen Niveau gelöst werden. Kooperation und Kollaboration sind heute der Schlüssel zum Erfolg. Heißt das nun, zurück zum Miteinander von alten Tagen, weil da alles besser war? Keineswegs. Wir müssen uns vorwärtsbewegen, hin zu einem neuen Wir im Business, das den heutigen Anforderungen gerecht wird. „Aber wir arbeiten doch eigentlich ganz gut zusammen“, werden an dieser Stelle viele Mitarbeiter und Führungskräfte für sich in Anspruch nehmen. Gemessen wird das meist an alten Wertvorstellungen. Was wir kennen ist: ‚Einer sagt an und die anderen machen loyal mit‘.
So haben mein Großvater und mein Vater in einem großen Industriebetrieb gearbeitet. Ich nenne das Clan-Wir. Viele ältere Mitarbeiter sehnen sich danach zurück, „Weißt du, früher war das ein ganz anderes Klima. Da hat man dem Unternehmen noch etwas bedeutet, da war man etwas wert.“ Kein Wunder, das bietet Geborgenheit. Wer mitmacht ist sicher. Das Arbeitsergebnis ist aber jeweils auf den Horizont der Führungskraft reduziert und der einzelne Mitarbeiter eher unmündig. In Familienbetrieben findet man das zum Teil heute noch. In einem komplexen Umfeld bleibt der Betrieb mangels Agilität aber schnell auf der Strecke und Mitarbeiter, die es vorziehen, eigenverantwortlich zu denken und zu handeln, werden nicht lange dort arbeiten.
Sprünge, Schleifen und ständige Interaktion
Dann gibt es noch das Amtsstuben-Wir. Arbeitsprozesse sind bis ins Kleinste durchstrukturiert und geregelt. Dem Einzelnen wird mehr Verantwortung übergeben. Alles ist so hervorragend durchorganisiert, dass jeder Mitarbeiter unabhängig bearbeiten kann, wofür er zuständig ist. Behörden haben es darin zur Perfektion gebracht, aber auch Unternehmen setzen natürlich auf Arbeitsteilung, denn das beschleunigt den Arbeitsprozess – so das Prinzip. Abteilungen können unabhängig von anderen mit ihrem eigenen Wissen und Ressourcen arbeiten und sich auf eigene Ziele fokussieren.
Der fehlende Blick oder das mangelnde Interesse für externe Beziehungen und Zusammenhänge ist heute auch unter dem Begriff „Silomentalität“ bekannt. Die Hoffnung ist verbreitet, dass die Arbeitsteilung weiterhin so funktionieren könnte: „Wenn jeder nur einfach seine Aufgaben erledigen würde“, hört man nicht nur entnervte Projektleiter stöhnen. Tatsächlich gibt es allerdings kaum noch Aufgaben, die linear abgearbeitet werden können. Es gibt Sprünge und Schleifen und ständige Interaktion zwischen den Beteiligten. Das führt zum Einsatz agiler Methoden.
Eine neue tragfähige Wir-Kultur
So wie wir neue Organisationsformen und Methoden entwickeln und einsetzen, müssen wir auch eine neue tragfähige Wir-Kultur entwickeln. Also nicht zurück zu, sondern hin zu einem neuen Wir. Dieses neue Wir braucht genau die starken Ichs, die unsere Leistungsgesellschaft gefördert hat, allerdings mit einem kooperativen Mindset. Was wir bisher gelernt und trainiert haben ist, uns entweder durchzusetzen, abzugrenzen oder zu folgen. Jetzt geht es um die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren, sich einzubringen, flexibel und offen zusammenzuarbeiten und gemeinsam Lösungen zu entwickeln. Menschen mit einem kooperativen Mindset übernehmen aktiv Verantwortung für das Gesamtziel und denken über ihre Rolle und ihren Verantwortungsbereich hinaus.
Gemeinsam eng an Problemlösungen arbeiten
Ein Begriff, der im Deutschen nicht sehr positiv belegt ist, taucht im Zusammenhang mit agiler Zusammenarbeit immer häufiger auf: Kollaboration. Es geht dabei nicht nur darum, kooperationswillig zu sein, sondern auch in der Lage dazu, gemeinsam eng an Problemlösungen zu arbeiten, die eben nicht einfach durch arbeitsteiliges Herangehen herbeigeführt werden können.
Hier gibt es keine Hierarchien mehr, keinen, der ansagt, was wann und wie zu tun ist. Das Team organisiert sich ebenso selbst, wie es innerhalb des Teams jeder Einzelne tut. Eine wichtige Frage: Wie machen wir uns fit für dieses neue Wir im Business? Das geht am besten, indem wir gewohnte Impulse hinterfragen und neue Verhaltensweisen bewusst trainieren. Beispielsweise mit folgenden zehn Kollaborations-Hacks.
Zehn Kollaborations-Hacks
1: Wir sind alle verbunden
Unser Handeln wird sich immer auf andere auswirken. Aufgrund der Komplexität der Zusammenhänge, können wir möglicherweise nicht immer überblicken und kontrollieren, auf wie viele andere und wie genau. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass es passiert. Wir sind immer Teil eines größeren Wir – das ist keine Entscheidung, sondern eine Tatsache. Damit sind wir weder machtlos noch unabhängig. Jeder Einzelne von uns gestaltet das Wir und damit die Lebens- und Arbeitsumwelt, in der wir uns befinden. Richten wir unser Verhalten danach aus.
2: Ko-zentriert statt konzentriert
Sich auf die eigenen Interessen konzentrieren oder machen, was der andere will, oder zur Not noch feilschen. So sieht unser Weg zur Lösungsfindung meist aus. Schwarzweiß ist für unser Gehirn viel leichter. Ko-zentriert zu denken, heißt nach Sowohl-als-auch-Lösungen zu suchen. So können wir in Kontakt mit unseren Kollaborationspartnern bleiben – auch wenn es einmal schwierig wird.
3: Interessen statt Positionen
Win-Win-Lösungen lassen sich nur finden, wenn wir uns über die eigenen Interessen und die Interessen der anderen Beteiligten klar werden. Wie gut, dass wir die natürliche Fähigkeit haben, zu kommunizieren und andere Perspektiven einzunehmen. Wenden wir sie an, um besser zu verstehen, statt unsere Positionen zu zementieren.
4: Gemeinsamkeiten suchen
Gemeinsamkeiten machen sympathisch. Unterschiede trennen. Unser Gehirn ist ständig am vergleichen. Wir haben die Wahl, worauf wir uns fokussieren. Wenn wir es uns zum Grundsatz machen, zum Einstieg in ein Gespräch eine Sache herauszufinden oder zu unterstreichen, die wir gemeinsam haben, wird aus dem Small Talk plötzlich ein ‚Strong Impact (starke Wirkung) Talk‘.
5: Wertschätzung für Andersartigkeit
Wir vergleichen nicht nur, wir bewerten auch sofort. Dabei betrachten wir uns selbst mit unseren Werten und Vorlieben gerne als das Normalmaß. Wer anders ist, ist dann nicht normal. Wird es schwierig, wird diese innere Haltung zum Konfliktverschärfer. Der Tipp eines buddhistischen Mönches: „Wenn ich mich dabei erwische, dass ich bewerte, ergänze ich einfach: Genau wie ich“. Das erinnert mich daran, dass ich nicht so anders bin, und erlaubt es mir, in einer wertschätzenden Haltung zu bleiben. Die Basis für echte Kollaboration. Denn die funktioniert nur auf Augenhöhe, indem verschiedene Persönlichkeiten zusammenwirken, um gemeinsam etwas zu erreichen, was alleine nie gelingen würde.
6: Geber-Mentalität
Das Gesetz der Gegenseitigkeit – Geben und Nehmen – ist ein menschliches Grundprinzip. Auch Kollaboration erfordert die Bereitschaft zu geben. Allen Bedenken „Was, wenn der andere es nicht zu schätzen weiß?“ und Ängsten „Was, wenn ich ausgenutzt werde?“ zum Trotz – Geber-Mentalität lohnt sich in jedem Fall, weil Geben erfolgreich, erfüllt und glücklich macht.
7: Das Wir im Blick
Erkennen wir das Wir als Organismus, hat das Wir auch das Recht auf eine Stimme. Das funktioniert am besten mit einem Wir-Stuhl. Während eines Meetings kann sich jeder Teilnehmer zu jedem Zeitpunkt auf diesen Stuhl setzen und dem Wir eine Stimme geben. Durch das Verlassen des Ich-/Du-Fokus, nehmen wir statt einer polarisierenden Sichtweise eine übergeordnete Perspektive ein, die uns hilft, neue, gemeinsame Lösungen zu finden.
8: Feedback – der Entwicklungsturbo
Zusammenarbeit bietet uns die Möglichkeit, uns deutlich schneller zu entwickeln als alleine – sofern wir kontinuierlich Rückmeldung erhalten. Feedback ist eine wunderbare Möglichkeit, jemandem etwas Wertvolles zu geben und damit in ein kollaboratives Miteinander zu investieren. Und natürlich kann man auch andere aktiv darum bitten. Je spezifischer wir beschreiben wofür, desto konstruktiver wird die Antwort sein.
9: Aktiv zuhören
Kollaborative Gesprächspartner zeichnen sich dadurch aus, dass sie andere aktiv zu deren Meinung und Ideen befragen und gut zuhören – auch wenn unter Stress erfahrungsgemäß unser Interesse an anderen Sichtweisen gegen Null sinkt. Dabei lebt gerade Kollaboration von verschiedenen Sichtweisen.
10: Psychologische Sicherheit
So lautet der Schlüsselfaktor für erfolgreiche Zusammenarbeit in Teams. Das ist das Ergebnis einer zweijährigen Studie namens Aristoteles, die Google mit über 180 ihrer eigenen Teams durchgeführt hat. Es geht um den Glauben, dass man nicht bestraft oder bloßgestellt wird, wenn man Ideen, Fragen, Bedenken oder Fehler anspricht. Sobald wir ein sicheres Umfeld schaffen, in dem andere sich sicher fühlen, ihre Meinung zu teilen, steigern wir automatisch die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen um uns herum kooperativer denken und handeln.
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Ulrike Stahl ist Rednerin, Autorin (So geht WIRtschaft!, metropolitan Verlag) und Expertin für das neue Wir im Business. Weitere Infos unter www.ulrike-stahl.com