Inklusion in der Augenoptik: Barrieren nur im Kopf
von Patricia Perlitschke,
Die Inklusion von Menschen mit Behinderung auf dem regulären Arbeitsmarkt ist immer noch die Ausnahme – das Potenzial für die Unternehmen unterschätzt. Nur langsam findet ein Umdenken statt. Auch in der Augenoptik? eyebizz fragte bei Herstellern und Betrieben nach und fand Mut machende Beispiele.
Viele denken, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten oder einer geistigen Behinderung nicht auf dem regulären Arbeitsmarkt arbeiten können. Aber braucht es einen akademischen Abschluss, um Akten zu archivieren? Oder Fachpersonal, um Patienten zum Untersuchungsraum zu führen? Was ist, wenn Stellenprofile neu gedacht werden – nicht in Berufen, sondern in Tätigkeiten?
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Stellenprofile neu denken
Hier setzt das Prinzip Jobcarving an. Es geht darum, Aufgaben im Unternehmen umzuschichten und so einerseits dem Fachpersonal mehr Raum für seine Kerntätigkeiten zu geben und andererseits Stellen auf die Fähigkeiten von Personen mit Einschränkungen zuzuschneiden. In Zeiten von Fachkräftemangel aktueller denn je.
Viele gut qualifizierte Menschen mit Behinderung bewerben sich zwar weitläufig, werden jedoch nie oder kaum zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen. Liegt es an überholten Auswahlkriterien und Vorurteilen, dass sie nicht in die engere Auswahl kommen? Dabei kann es sich für beide Seite lohnen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finden, die nicht ins Schema F passen.
Behinderte Menschen auf dem Arbeitsmarkt
Die Arbeitslosenquote unter behinderten Menschen ist doppelt so hoch wie bei anderen Arbeitnehmern. Rund 300.000 Menschen mit Behinderung arbeiten in Behindertenwerkstätten für ein Taschengeld. Die Ursachen: Berührungsängste und Vorurteile von Seiten der Unternehmen, aber auch fehlende berufliche Qualifikation von Menschen mit Behinderung. Etwa 40.000 Unternehmen in Deutschland bezahlen laut JOBinklusive die sogenannte Ausgleichsabgabe, anstatt die gesetzlich vorgeschriebene Anzahl von Menschen mit Behinderung (5 % der Belegschaft) zu beschäftigen (gilt für Betriebe ab 20 Mitarbeiter, § 160 SGB IX). Eine Zahl, die vielleicht überrascht: 97 % aller Behinderungen werden im Laufe des Lebens erworben.
„Studien belegen, dass Unternehmen, die Vielfalt leben, für Bewerber allgemein attraktiver sind. Unternehmen, die Menschen mit Behinderungen bedenken, erreichen dadurch eine neue Bewerbergruppe und können langjährige Mitarbeiter halten“, so Silke Georgi von JOBinklusive. Die Initiative ist ein Projekt der Sozialheld*innen e.V. in Berlin und berät und coacht Unternehmen, die inklusiver werden wollen (jobinklusive.org).
Möchte ein Unternehmer Beschäftigte mit Behinderungen einstellen, sollte er bei der Stellenausschreibung einige Punkte beachten, damit diese sich auch angesprochen und willkommen fühlen. So sollten die geforderten Tätigkeiten am Arbeitsplatz genau beschrieben, möglichst klischeefreie Fotos verwendet (gesellschaftsbilder.de) und ein Ansprechpartner genannt werden, der im Unternehmen Fragen zu Inklusion und Barrierefreiheit beantworten kann. Sinnvoll ist es, das Stellenangebot auf barrierefreien Jobplattformen zu schalten. Tipp:myability.jobs ist die größte Jobplattform für Menschen mit Behinderung in Deutschland.
Schulungsprogramme
Wie weit ist die Augenoptik beim Thema Inklusion? Beim Kontaktlinsenhersteller Alcon in Aschaffenburg legt man Wert darauf, dass jeder Mitarbeiter so akzeptiert wird, wie er ist, und bietet Schulungsprogramme im Bereich Diversity & Inclusion an. „Durch diese Programme wollen wir das Bewusstsein für Vielfalt fördern, das Verständnis für kulturelle Unterschiede vertiefen und ein inklusives Führungsverhalten aufbauen“, so Benedikt Hoffmann, Franchise Head Alcon Vision Care & General Manager Alcon, DACH.
Neutrale Bewerbungen
Anders bei OCULUS Optikgeräte in Wetzlar. „Wir haben kein besonderes Programm zur Inklusion“, sagt Personalleiter Marc Busch. „Wir achten aber darauf, im Bewerbungsprozess keine Daten über vorliegende Behinderungen zu erfassen, um hier keinerlei, und sei es nur unbewusst, Einflüsse auf den Entscheidungsprozess zu haben. Natürlich gibt es bei uns Mitarbeitende, bei denen eine Schwerbehinderung vorliegt. Informationen darüber liegen nur vor, wenn die Leute uns das freiwillig mitteilen. Art und Grad einer Behinderung spielt für uns keine Rolle, es kommt uns nur darauf an, unsere Aufgaben zu erledigen. Eine Bevorzugung oder Diskriminierung von behinderten Menschen können und wollen wir uns vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels gar nicht erlauben.“
Geeignete Rahmenbedingungen schaffen
Einige Augenoptikbetriebe führen vor, wie Arbeitskräfte mit Behinderungen unterschiedlichster Art problemlos inkludiert werden können. Zum Beispiel die Fielmann Gruppe mit über 19.000 Beschäftigten im Hamburger Headquarter und in rund 600 Fachgeschäften in Deutschland. „Wir beschäftigen Menschen mit Behinderung sowohl in unserer Zentrale als auch in den Niederlassungen und bieten ihnen hier das entsprechende Umfeld“, so Carmen Adler, Schwerbehindertenbeauftragte der Fielmann AG.
Andre Roßkamp etwa. Er ist auf beiden Ohren hochgradig schwerhörig, trägt Hörsysteme und arbeitet als Meister in der Lübecker Niederlassung. Hier betreut er Kunden in der Hörakustik. Zudem ist er Digitalisierungs-Beauftragter des Standortes und demnächst Assistent des Niederlassungsleiters.
„Die größte Hürde ist für mich im Moment die Maske, weil ich dadurch nicht von den Lippen ablesen kann“, erzählt Roßkamp, „da ich aber mit meiner Schwerhörigkeit offen umgehe, habe ich bis jetzt nur positive Erfahrungen mit Kunden gemacht. Meine Kollegen unterstützen mich sehr.“
Ein anderes Beispiel: Marko Jovanovic arbeitet in der Hamburger Zentrale im Bereich IT. Er hat eine Kontakt- und Kommunikationsstörung (Asperger Syndrom). Vor seiner Umschulung war er bereits als externer Mitarbeiter bei Fielmann beschäftigt.
Die Eingliederung war fließend. Er konnte seinen Arbeitsplatz so einrichten, dass er sich wohlfühlt und keine Störpunkte hat. Viele Kollegen wissen gar nicht, dass er eine Behinderung hat. Wenn er darauf angesprochen wird, beschreibt er seine Probleme bei der sozialen Interaktion.
„Jeder ist begabt! Aber wenn Du einen Fisch danach beurteilst, ob er auf einen Baum klettern kann, wird er sein ganzes Leben glauben, dass er dumm ist.“ (Albert Einstein)
Bei der Rottler Gruppe (98 Filialen) arbeiten Menschen mit Behinderungen in allen Unternehmensbereichen, so Personalleiterin Julia Schulte, aktuell rund 30 von insgesamt 650 Beschäftigen. „Bei der Eingliederung haben wir keinen Masterplan, sondern agieren und reagieren immer individuell. Denn jeder hat andere Bedürfnisse, und nur so finden wir für jede Mitarbeiterin und jeden Mitarbeiter mit Behinderung die bestmögliche Lösung.“
Die unternehmenseigene Akademie gibt in der Startphase Sicherheit. Für die Betroffenen werden die passenden Rahmenbedingungen geschaffen, etwa barrierefreie Arbeitsplätze im Erdgeschoss oder spezielle Arbeitsstühle.
Die Kontaktaufnahme neuer Beschäftigter mit Behinderung gehe dabei von beiden Seiten aus. Bei der Einstellung erhalte Rottler häufig einen Eingliederungszuschuss. Julia Schulte: „Ganz wichtig ist uns ein ehrlicher und offener Austausch und die Enttabuisierung des Themas innerhalb des Unternehmens.“
„Mehr möglich als gedacht“
Brillenstudio Hahn in Günzburg
Der 27-Jährige Samuel Hahn mit Down-Syndrom ist das jüngste Kind von Uschi und Harald Hahn und kümmert sich seit 2013 als „Optical Assistant“ um die vielen kleinen Tätigkeiten, die in der Summe doch viel Zeit binden: Sortieren und Pflege der Ware, Service-Arbeiten in der Werkstatt, Unterstützung bei der Dekoration, Werbung, Büroarbeiten, Aufräumen.
Anfangs wurden Tages- und Wochenpläne erstellt, inzwischen ergibt sich der Tagesablauf durch die anfallenden Aufgaben. Uschi Hahn: „Es ist viel mehr möglich, als wir uns anfangs vorgestellt haben. Samuel arbeitet mit Begeisterung im Team, identifiziert sich mit dem Betrieb und ist bei unseren Kunden beliebt. Wir bekommen viele positive Rückmeldungen.“
Eigentlich sollte der junge Mann nach der inklusiven Schulzeit in einem anderen Betrieb starten. Als das nicht klappte und im Familienbetrieb viel zu tun war, ergab sich hier die Stelle für Samuel. Die Eingliederung erfolgte ohne externe Unterstützung, Stolpersteine gab es an anderer Stelle. „Die verantwortlichen bayerischen Ämter – Arbeitsamt, Inklusionsamt und der zuständige Bezirk Schwaben – sahen anfangs keine Möglichkeit, den Arbeitsplatz anzuerkennen und finanziell zu fördern. „Das haben wir uns erstreiten müssen“, so Uschi Hahn.
Ihr Fazit: „Inklusion ist in unserer Branche sehr gut möglich und lohnt sich für alle Beteiligten, trotz des Aufwands. Menschen mit Handicap sollten nicht isoliert in speziellen Werkstätten mit geringem Taschengeld arbeiten müssen, sondern auf dem ersten Arbeitsmarkt mitten in der Gesellschaft mit fairer angemessener Bezahlung.“
„Den Betrieben die Angst nehmen“
K-Optik in Mutlangen
Bereits seit 2014 ist Max Knaus Teil des Teams von K-Optik. Zu den Hauptaufgaben des 31-Jährigen mit Down-Syndrom gehören Botengänge zur Post, die Pflege des gesamten Verkaufsbereichs und der Brillenfassungen sowie – seine Lieblingsaufgabe – das Servieren des Kaffees für die Kunden. „Mancher mag denken, dass das keine großen Aufgaben sind, aber wenn Max einmal krank ist oder frei hat, fehlt er unheimlich“, erzählt seine Schwester Anna Knaus.
Schon zum Ende seiner Schulzeit konnte der Sohn von Geschäftsführerin Ursula Knaus in mehreren Praktika in unterschiedliche Berufsfelder hineinschnuppern und seine persönlichen Stärken kennenlernen. Nach einer Anstellung in einem industriellen Unternehmen wechselte er Ende 2014 in den Familienbetrieb.
„Max ist körperlich fit und benötigt keinerlei Barrierefreiheit. Von Seiten der Kundschaft wird er als Arbeitskraft hochgeschätzt und von Stammkunden jedes Mal gleich mit Namen begrüßt. Im Laufe der Jahre konnten einige Barrieren abgebaut werden – sowohl bei Angestellten als auch bei Kunden, die bisher nicht in Berührung mit dem Thema Down-Syndrom gekommen sind.“ Auch im Ort machte das Beispiel bereits Schule.
Am Anfang brauche es, wie bei jedem neuen Mitarbeiter, Zeit und Geduld und eine positive Grundeinstellung, so Anna Knaus. Anderen Arbeitgebern die Angst zu nehmen, ist der Familie ein großes Anliegen, auch vor der anfallenden Bürokratie und zusätzlichen Kosten. „Es gibt Regelungen und Gesetze, die den Arbeitgeber unterstützen. Klare Leitfäden, die Sicherheit und Hilfe bei Verträgen und Kostenübernahme geben.“ Bei K-Optik will man einen weiteren Mitarbeiter mit Behinderung einstellen.
„Inklusion in der Augenoptik: Das Thema ist an der Zeit“
Optik Meier in Niefern-Öschelbronn
Die 53-jährige Sabine Meier ist seit einem Autounfall 1991 auf einen Rollstuhl angewiesen und unterstützt ihren Mann René (56) bei Beratung und Verkauf, Fassungseinkauf, Terminvereinbarungen, Werkstattreparaturen und der Repräsentation des Unternehmens.
Bei der Eröffnung des Augenoptikbetriebs 1996 wurde das gesamte Ladengeschäft komplett barrierefrei gestaltet. Alle Bereiche und die Werkstatt sind unterfahrbar und ebenerdig. Der Refraktionsraum ist Rollstuhl tauglich angepasst mit einem normalen Sessel, der bei Bedarf weggenommen werden kann.
„Die Behinderung ist bei der Arbeit kein Thema. Bei unseren Kunden steht die Beratung, das handwerkliche Können und die Professionalität an erster Stelle“, so René Meier. Seine Frau stimmt zu: „Ich denke darüber nicht nach, dass sich jemand an meinem Rollstuhl stören könnte. Ich wende mich allen Kunden zu und erhalte selten negative Reaktionen.“
Es sei Zeit, dass das Thema Inklusion in der Augenoptik endlich angegangen wird, findet die kommunale Inklusion-Verwalterin. Hinter der Zurückhaltung vermutet sie die Sorge der Betriebe, wie Kunden auf Mitarbeiter mit Behinderung reagieren könnten.
Ihr Tipp: Beim (Um)Bau neuer Geschäfte unbedingt barrierefrei planen, Zu- und Durchgänge breiter anzulegen, reiche schon, dazu eine Rampe. Dann hätten auch Senioren mit Rollator keine Probleme, ins Geschäft zu kommen.
Silke Georgi, JOBinklusive, Projektleiterin bei Sozialhelden e.V.:
„Es freut uns sehr, dass eyebizz Inklusion in der Augenoptik thematisiert. Denn es gibt praktisch keinen Job, der nicht durch einen Menschen mit Behinderung gemacht werden kann. Menschen mit Behinderungen sind oft gut ausgebildet, aber im Vergleich zu anderen Menschen überproportional erwerbslos. Viele sind sehr motiviert, aber sie werden aus unterschiedlichen Gründen nicht eingestellt. Berührungsängste, (un)bewusste Vorurteile, bürokratische Hürden und Unwissen über Unterstützungsmöglichkeiten können eine Rolle spielen.
Es gibt aber Instrumente wie z.B. JobCoaching, „unterstützte Beschäftigung“ und die Finanzierung von Hilfsmitteln, die vieles möglich machen, aber kaum genutzt werden. Und es gibt Organisationen, die schon seit Jahren Menschen mit Behinderungen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt begleiten und Arbeitgeber:innen unterstützten.
Hoffentlich inspirieren die guten Beispiele aus der Augenoptik viele andere. Denn von mehr Inklusion können alle nur profitieren: menschlich und wirtschaftlich.“