Karin Stehr: Independent Labels machen einzigartig
von Dr. Jürgen Bräunlein,
Karin Stehr gehört zu den interessantesten Unternehmerinnen der Augenoptik. Mit „Bellevue“, ihrem Concept-Store unabhängiger Designer-Marken, setzte die Hamburgerin Trends. Mit „True Eyewear“ gibt sie ihr langjähriges Wissen weiter und berät Augenoptiker beim Portfolio. Im eyebizz-Gespräch blickt sie auf ihre Anfänge zurück, bewertet aktuelle Branchen-Entwicklungen und stellt ihr neues Business vor.
eyebizz: Frau Stehr, Ihr Mann, gelernter Augenoptikermeister, und Sie, mit kaufmännischer Ausbildung bei einer Spedition, also Quereinsteigerin, haben sich 1989 mit Viva! Brillenmode in Wandsbek selbstständig gemacht. Wenn Sie so zurückdenken, wie war der Start?
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Karin Stehr: Wir hatten einen Platzhirsch schräg gegenüber, der vor Ort war, seit wir denken konnten. Uns war von Beginn an klar, dass wir ein anderes Geschäft haben wollten. Unser Konzept war, möglichst wenig von den damals bekannten Marken anzubieten, sondern neue, unabhängige Labels. Deshalb war ich auch vom ersten Jahr an auf den einschlägigen Brillen-Messen, vor allem der Mido in Mailand, dann der Silmo in Paris.
Wie war die Mido damals?
Im Vergleich zur Optica in Köln beeindruckend anders, exotisch, eine völlig andere Welt. Da gab es eine Foreigners Lounge mit kostenlosen Snacks, wir fühlten uns hofiert. Dazu viele Brands, die wir gar nicht kannten. Die hatten noch keine Agenten oder einen Außendienst in Deutschland, sondern mussten direkt importiert werden.
Was hat sich insgesamt zu heute verändert?
Einerseits war es einfacher, weil Augenoptiker fast alle Labels bekommen konnten, wenn sie neu anfingen. Wir fingen mit Armani und Theo Eyewear an, die selbst gerade erst auf den Markt gekommen sind. Nur Oliver Peoples bekamen wir leider nicht, weil ein Geschäft in Hamburg die Marke bereits führte. Anderseits war es damals schwerer, weil Designer-Brillen noch viel erklärungsbedürftiger waren als heute. Die Leute, die draußen vorbeigingen, sahen im Schaufenster keine bekannten Marken, das hat viele zunächst nicht in das Geschäft gelockt. Später, als die Mund-zu-Mund-Werbung funktionierte, kamen sie extra deswegen.
„Gute Chancen sehe ich für engagierte Augenoptiker, die ein Konzept mit starkem Profil haben.“
Karin Stehr
Und wir haben mehr und mehr Independent Brands eingekauft. Mit dem Konzept von Bellevue, dem Geschäft, das ich 2005 mitten in Hamburg gründete, habe ich es dann konsequent auf die Spitze getrieben. In Wandsbek, einem selbstständigen Stadtteil der Hansestadt mit einer normalen Konsumlage, hätten wir die Edel-Independents, die inzwischen auf dem Markt waren, nicht gut verkaufen können.
Wäre eine Geschäftsgründung heute schwieriger?
Vermutlich ja, weil derzeit keiner genau sagen kann, was in drei, vier Jahren sein wird. Aber ich denke, wir gewöhnen uns gerade an diese Situation. Derzeit ist es vor allem wichtig, als Augenoptiker ein extrem spitzes Konzept zu haben und den richtigen Standort dafür zu finden. Um sich ganz auf seine Wunschkunden einstellen zu können, muss man sich heute spezialisieren. Jetzt, wo viele Geschäfte verkauft wurden, ist ein Vakuum entstanden. Da sehe ich Chancen für engagierte Augenoptiker, die ein Konzept mit starkem Profil haben, das zu ihnen persönlich passt.
Nach dem Verkauf Ihres Geschäftes Bellevue im letzten Jahr haben Sie ein neues Business aufgebaut, das jetzt an den Start geht: True Eyewear. Was hat es damit auf sich?
Das Thema unabhängige Brillenmarken hat mich von Beginn an bis heute begleitet, dafür brenne ich. All mein Know-how dazu will ich kanalisieren und jetzt vor allem an Augenoptiker weitergeben. In einer Datenbank werden Independent Labels alphabetisch gelistet, beschrieben und in ihren Besonderheiten klassifiziert. Wer ist in welcher Stilrichtung unterwegs? Wo wird produziert? Welche Materialien werden verwendet?
Derzeit habe ich 45 Brands auf der Website, bis Ende des Jahres sollen es 90 sein. Die laufend erweiterte Datenbank soll in erster Linie ein Serviceangebot für unabhängige Augenoptiker sein, die sich neutral informieren wollen und dann ihre eigenen Schlüsse ziehen können. Darüber hinaus berate ich Augenoptiker individuell bei der konkreten Kollektionsauswahl. Gerade wenn sie aus einem eher konventionell geführten Geschäft kommen, kennen sie oft vor allem nur die großen Marken.
Wie definieren Sie Independent Labels?
Es sind Gründer, die noch Potenzial beim Brillendesign sehen, eine Kollektion entwickeln wollen, die es so noch nicht gibt. Die Designer kommen aus der Augenoptik oder sind freie Brillen-Designer, die bereits für andere Brands entworfen haben, oder Produktdesigner wie Veronika Wildgruber. Sie haben die Vision, sich mit eigenem Brillendesign selbst zu verwirklichen. Schnell viel Geld zu verdienen, ist vermutlich nicht ihr vorrangiges Ziel. Das ist auch, was ich unter True Eyewear verstehe: das Wahre, Echte, Einzigartige, das Authentische. Natürlich muss man darüber nachdenken, welche Brands noch dazugehören und welche nicht. Das diskutiere ich mit einem Beraterteam.
Welche Fehler werden aus Ihrer Sicht von Augenoptikern gemacht, wenn sie ein Brillen-Portfolio für ihr Geschäft zusammenstellen?
Man kann schon einen Fehler machen, wenn man einfach nur auf Marken zurückgreift, die man aus den Geschäften kennt, wo man bislang gearbeitet hat. Denn das neue Geschäft wird anders sein, da kann es passieren, dass diese Marken dann gar nicht passen. Auch wenn man gute Kolleginnen und Kollegen fragt, ist das nicht unbedingt hilfreich, weil diese meist in ihrer eigenen Welt verhaftet sind. Letztendlich geht es um die sinnvolle, richtige und beste Mischung für das spezielle Konzept und den jeweiligen Standort. Dabei ist auch die Reihenfolge wichtig: Erst wenn ich das richtige Konzept für meinen Standort entwickelt habe, schließt sich die Frage an: Welche Brands passen dazu?
Manche Augenoptikerinnen und Augenoptiker, die ihr Portfolio vor allem mit großen Marken aufgebaut haben, zögern vielleicht, zu viele Independent Labels aufzunehmen, weil sie fürchten, dass ihre Kunden dann nicht mehr kommen. Was sagen Sie denen?
Ich persönlich glaube, dass man für absolut jeden Standort und jede Kundengruppe eine viel bessere Kollektion aus Independents zusammenstellen kann als mit Lizenzmarken. Denn die Chance, sich zu profilieren und ein wirklich einzigartiges Geschäft aufzubauen, bekommt man mit Lizenzmarken nicht mehr. Wenn man sich aber traut, auf Independents zu setzen und das gut macht, kommen auch Menschen, die sagen: So coole Brillen habe ich ja noch nie gesehen. Sonst finde ich vielleicht eine, hier liegen aber gleich fünf und ich kann mich nicht entscheiden. Das ist jedenfalls eine Erfahrung, die ich bei Bellevue oft gemacht habe.
Sie haben sehr früh angefangen, die Designer in den Vordergrund zu stellen. Mit einigen haben Sie sich auch angefreundet. Warum?
Wenn man sich mit den Designern beschäftigt und mit ihnen Kontakt aufnimmt, erfährt man so viel zum Hintergrund. Wie die Brillen entstanden sind, was die Designer antreibt. Diese Menschen hinter den Brands näher kennenzulernen, sehe ich als persönliche Bereicherung an und damit geht auch die Beratung im Geschäft hinterher fast von alleine, weil man einen echten Bezug zur Kollektion hat. Genau das ist bei globalen Lizenzmarken oft anders, wo Augenoptikern diese Nähe und auch der Bezug fehlt.
Nachhaltigkeit ist für Augenoptiker ein wichtiges Thema geworden, wenn auch ein schwieriges.
Ja. Es ist dringend notwendig, sich bei jeder Entscheidung auch damit zu beschäftigen. Gerade wenn ein Augenoptiker neu anfängt oder sich umorientiert, sollte er sich vorher darüber im Klaren sein, welches Gewicht das Thema bei ihm haben soll. Theoretisch kann man heute schon ein Geschäft mit zehn Kollektionen machen, die vollkommen oder überwiegend mit einer nachhaltigen Strategie arbeiten. Doch vor allem muss es zu einem selber passen. Und es sollte nicht der Verdacht von Greenwashing aufkommen. Das Engagement für Nachhaltigkeit muss überzeugen, also wirklich aus dem Herzen kommen.
„Dass Großunternehmen immer mehr kleine Brands übernehmen, ist nicht gut.“
Karin Stehr
Zunehmende Filialisierung einerseits, die wachsende Macht globaler Megakonzerne auf Industrieseite andererseits. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Überwiegend negativ, weil das, wofür ich stehe, Individualität ist. Und die geht in immer größeren Strukturen immer schneller und immer mehr verloren. Insofern ist es für uns als Augenoptiker nicht gut, dass die Großunternehmen noch größer werden und immer mehr kleine Brands übernehmen. Für Endverbraucher ist es auch nicht gut, dass immer mehr Geschäfte in solchen Strukturen aufgehen und dann kein eigenes Profil mehr haben können, weil die Firmenleitung Vorgaben macht.
Doch die Bequemlichkeit und eben auch dieses Gefühl – „da weiß ich, was ich habe“ – zieht dennoch viele Menschen, auch wenn sie es innerlich vielleicht gerne anders machen würden, in solche Ketten, das betrifft natürlich auch andere Branchen. Dennoch glaube ich, dass es zwar eine kleine, aber leicht wachsende Klientel gibt, die, wenn sie es einmal ausprobiert hat, individuell geführte Augenoptikergeschäfte nicht mehr missen will.
Frau Stehr, was würden Sie Augenoptikerinnen und Augenoptikern raten, die als Einzelkämpfer unterwegs sind und vielleicht gerade mit ihrem Beruf hadern?
Ich würde ihnen raten, von außen eine Bestandsaufnahme zu machen, mit Hilfe von Menschen, die sich mit Marketingstrategien auskennen. Und dabei klären: Wo stehe ich? Kann ich wirklich nichts mehr für mein Geschäft tun? Oder habe ich nicht noch Möglichkeiten, in einem Bereich tiefer einzusteigen, der mich immer schon begeistert?
Das müssen keine Independent Brands sein, sondern könnte auch Optometrie sein. Oder Myopie-Management. Ab mittelgroßen Städten sehe ich gute Chancen, ein Geschäft mit dieser Spezialisierung aufzubauen, zumal wenn man selber kleine Kinder hat und dadurch auch ein Netzwerk, mit dem sich ein Kundenstamm aufbauen lässt. Ich kann nur sagen, dass es sich lohnt, sein eigenes Thema zu finden.