Der Weg von Mister Spex vom Online- zum Omnichannel-Anbieter wurde jahrelang vom Rätselraten über fehlende schwarze Zahlen und geduldigen Investoren begleitet. Im Dezember 2022 machen das enttäuschende erste Jahr an der Börse und rote Zahlen eine zufriedenstellende Rückschau und einen positiven Ausblick unmöglich. Doch Europas größter Omnichannel-Optiker wächst stetig weiter und kreiert interessante Ideen.
„Der Aktionär“ schreibt im Juli 2022 über „den Niedergang des Omnichannel-Brillenhändlers“ und dessen Gründe. Das Wochenmagazin für Börse und Finanzen nimmt die Entwicklung der Aktie von Mister Spex ein Jahr nach dem Börsengang als Maßstab für sein Untergangsszenario. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache, denn am 2. Juli 2021 ging das Unternehmen zu einem Ausgabepreis von 25 Euro pro Aktie in Frankfurt an die Börse. Ein Jahr später notierte die Aktie 79 Prozent leichter bei 5,43 Euro.
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Am 22. November 2022 sind die 4,20 Euro schon beinahe eine gute Nachricht, denn zwischenzeitlich rangiert das Spex-Papier bei 2,46 Euro. Das Urteil des „Aktionär“ zum einjährigen Jubiläum klingt dennoch knallhart: „Die Marktkapitalisierung von 829 Millionen Euro beim IPO ist auf mittlerweile nur 123 Millionen zusammengeschmolzen. Der Aktionär rät davon ab, bei Mister Spex ins fallende Messer zu greifen.“
Die ehemaligen Geschäftsführer und heutigen Vorstandsmitglieder haben sich seit der Gründung als Online-Händler vor 15 Jahren noch nie dadurch hervorgetan, ihre (oft roten) Zahlen anlässlich des zu Ende gehenden Geschäftsjahres an die große Glocke zu hängen. Dirk Graber und Mirko Caspar ist es bis heute stets gelungen, Mister Spex wachsen zu lassen. Zum einen gibt es schon 65 stationäre Stores, die allermeisten in Deutschland, wenige in Österreich und Schweden und seit Anfang November in Zürich den ersten in der Schweiz. Zum anderen vermeldet man regelmäßig positive Umsatzzahlen, zuletzt Mitte November dieses Jahres: Für das dritte Quartal hat der Umsatz in der DACH-Region laut Unternehmen exakt das für das gesamte Jahr 2022 erwartete Wachstum von 18 Prozent auf 58 Millionen Euro hingelegt.
Mister Spex: „Kommentieren wir grundsätzlich nicht“
„Den Börsenverlauf kommentieren wir grundsätzlich nicht, aber wir schauen genau darauf“, sagt Judith Schwarzer, Head of Corporate Communications, auf Nachfrage. Natürlich, nach der Corona-Pandemie und mitten in Inflation und Energiekrise befindet sich der Omnichannel-Musterprofi der Augenoptik an der Börse in bester Gesellschaft, viele Aktiengesellschaften werden sich die Metapher des fallenden Messers gefallen lassen müssen, die an der Börse einer Roten Karte gleichkommt. Aber Mister Spex hat vermutlich Routine im Umgang damit, denn die Berliner wurden schon nach ihrer Gründung jahrelang für beinahe tot erklärt, weil die Bilanz nie bis selten schwarz zu lesen war.
Möglicherweise sorgt der Börsenverlauf für ein Umdenken am Prenzlauer Berg. Das „Lean 4 Leverage“, ein erst im Herbst dieses Jahres eingeführtes Effizienz-Programm, zeige bereits erste Ergebnisse. Schwarzer: „Wir haben zum Halbjahr unsere Erwartungen hinsichtlich der Zahlen korrigiert und uns intensiv mit unserem Wachstum beschäftigt.“ Als eine interne Maßnahme sei dabei die Konzentration auf den Kernmarkt DACH herausgekommen. Damit nicht genug: „Wir prüfen derzeit unsere Preise, unsere Produktivität, die operativen Kosten und auch die Margen unserer Produkte“, erklärt Schwarzer und verneint nicht, dass es in diesem Prozedere für den Verbraucher bald etwas teuer werden könnte bei Mister Spex – online und stationär.
Store-Netz für erfolgreiche Zukunft
Es ist kein Geheimnis, dass man sich durch den Ausbau des stationären Store-Netzes eine erfolgreiche Zukunft verspricht, auch wenn offiziell Omnichannel-Mantra und Online-Verkaufserlebnis weiter nach vorne gestellt werden. Vorstand Mirko Caspar lässt sich zur Eröffnung des Spex-Stores in Zürich zitieren, dass Stores die perfekte Ergänzung „zu unserem Online-Angebot und den Services durch unsere Partneroptiker“ seien.
Caspar: „Vor Ort schaffen wir einen weiteren Zugang zu unserem Angebot, bieten Vor-Ort-Beratungen, Sehtests und Anpassungen – und sprechen ein zusätzliches Publikum an, das uns vielleicht noch nicht kannte oder beim Online-Kauf noch leichte Zweifel hatte. Wir haben es in der Schweiz geschafft, in sieben Jahren eine hohe Markenbekanntheit aufzubauen und sehen großes Potenzial für weiteres Wachstum.“
In Deutschland werden bis Ende 2022 noch zwei, drei weitere Stores eröffnet haben, 2023 sollen es wieder zehn bis zwanzig neue stationäre Anlaufstellen geben. Bei Mister Spex ist es völlig egal, wo der Kunde seinen Kauf tätigt. Der Ansatz heißt: Die Ansprache, die Beratung, selbst der Kauf- und Bezahlprozess gleichen sich online wie im Geschäft – aber nur im Geschäft bekommt der Kunde die Hilfestellung eines Beraters, wenn er das denn möchte.
Können oder wollen sie nicht?
Es gibt wohl niemanden in der Branche, der die Online-Welt so mit dem Einkaufserlebnis vor Ort verknüpft. Bleibt die Frage, ob es die wenigen, die das adaptieren könnten, tatsächlich nicht können oder nicht wollen. Für den unabhängigen Augenoptiker ist das unerheblich: Mister Spex konkurriert eher mit anderen Unternehmen der Branche, und der Unabhängige kämpft nicht nur gegen Onliner. Es gibt immer noch etliche Partneroptiker, die für Mister Spex Refraktionsbestimmungen und Brillenanpassungen für eine kleine Provision vornehmen. Während der Online-Sehtest versucht, eine Lücke zu schließen, wird es zur anatomischen Anpassung wohl erst mit dem Durchbruch des 3D-Drucks in der Augenoptik eine Alternative geben.
Realistischer ist eher das flächendeckende Netz an stationären Stores. „Wir gehen in die Innenstädte“, sagt Schwarzer, dort komme man auch den Partneroptikern kaum ins Gehege, weil die eher selten in den 1A-Lagen zu finden seien. Wie immer ist auch das nicht so einfach, denn der Fachkräftemangel gilt auch für Omnichannel-Anbieter – mindestens dann, wenn er neue stationäre Geschäfte mit Personal bestücken möchte. „Ja, das sehen wir als eine Herausforderung“, so die Sprecherin.
Mister Spex bildet seit geraumer Zeit selbst aus und hat neben einer Hand voll Lehrwerkstätten im Bundesgebiet (Reutlingen, Berlin, Münster, Mannheim – bald vermutlich auch Köln) auch eine etwas andere Laufbahn im Einzelhandel zu bieten als der klassische Augenoptikbetrieb. Im Verkauf und in der Beratung seien in den Stores gelernte Augenoptiker*innen nicht unbedingt nötig – denn alle Informationen rund um den Brillenkauf gebe es online – und im Geschäft wird ja dazu animiert, während des Kaufs mit oder ohne Berater den Online-Shop von Mister Spex zu nutzen. Dort wird die Bestellung der neuen Brille ausgelöst, die in der Berliner Firmenzentrale gefertigt und von dort geliefert wird.
New-Work-Konzept
Trotzdem muss sich auch Mister Spex für zukünftige Mitarbeitende attraktiv halten. Dazu gehören zwei Spielfelder. Das Unternehmen hat ein „New-Work-Konzept“ eingeführt und setzt zweitens nach eigener Aussage zukünftig einen stärkeren Fokus auf die Reduktion von Emissionen.
So geht es in der modernen Firmenzentrale heute längst nicht mehr so wuselig zu wie bei der Eröffnung vor ein paar Jahren. Das liegt nicht daran, dass die Maschinen stillstünden. Vielmehr zeigen sich die Mitarbeitenden angetan von den neuen Arbeitsbedingungen, die seit 2021 bereits die generelle Arbeit aus dem Homeoffice erlauben, das Reisen auf ein Minimum reduzieren und auf die Nutzung des ÖPNV setzen.
Wer möchte, darf bis zu sechs Wochen im europäischen Ausland arbeiten – Voraussetzung: Die Arbeit wird nicht in der Logistik oder im Store verrichtet. „Social Responsibility bedeutet bei uns auch, Beruf und Familie bestmöglich zu verzahnen und attraktive Arbeitsmodelle anzubieten“, sagt Schwarzer.
Luftpolster mit Blue Ocean Folie
Auch nachhaltiges Handeln macht Arbeitgeber attraktiv. Mister Spex will zukünftig mehr tun, als nur CO2-Emmissionen zu kompensieren. Firmenweit wurde bereits die Elektrizität auf erneuerbare Energien umgestellt. Zudem stehe die klimafreundliche Gestaltung von Verpackung und Versand im Fokus. Schon heute besteht das Versandmaterial zu einem „hohen Anteil aus recyceltem Material“. Die verwendete Luftpolsterfolie Blue Ocean sei zu hundert Prozent recyceltet. Alles Zwischenschritte zum eigentlichen Ziel: zukünftig nur wiederverwertbare Materialien verwenden zu wollen und bis 2025 komplett auf Einwegplastik zu verzichten.
All das schert die „gnadenlosen“ Journalisten von „Der Aktionär“ eher wenig. Dr. Sebastian Dehnen, Chief Financial Officer und Mitglied des Vorstands, hat Mister Spex bereits Ende August 2022 „im besten gegenseitigen Einvernehmen“ nach nur zwei Jahren schon wieder verlassen. Zuvor habe er „maßgeblich zum erfolgreichen Börsengang beigetragen und das Unternehmen auf die Anforderungen des Kapitalmarkts vorbereitet“, hieß es damals. Das Messer muss demnach jemand anderem aus der Hand gefallen sein. Es dürfte an der Zeit sein, von verantwortlicher Seite aus danach zu greifen: Auch wenn es weh tut! Allen anderen positiven Nachrichten rund um Mister Spex zum Trotz.
/// IR
Mister Spex SE Greifswalder Straße 156, 10409 Berlin Gründung: 2007 Leitung: Dirk Graber (Gründer und Vorstand), Mirko Caspar (Co-CEO), Maren Kroll (CHRO) Mitarbeiter: rund 1.350 Stationäre Stores: 65 Bestellungen: rund 20.000 täglich Umsatz 2021: 194 Mio. Euro Bereinigtes EBITDA: 4,1 Mio. Euro