Gepusht durch neue Brillengläser und begleitendes Marketing der Hersteller gibt es derzeit kaum ein Thema, das für die Branche eine solche Wirkung erzielt wie Myopie-Management. Völlig zu Recht, auch wenn sich die Entwicklung der Kurzsichtigkeit in Deutschland nur bedingt mit der weltweiten Myopie-Zunahme vergleichen lässt. Vielleicht ist diese „neue“ Dienstleistung der Augenoptiker*innen auch deshalb noch nicht richtig beim Verbraucher angekommen. Doch der wachsende Markt an Myopie-Brillengläsern wird das ändern. Ein Überblick.
Das Thema Myopie-Kontrolle hat aus vielerlei Gründen das Zeug, die Augenoptik in den kommenden Jahren zu dominieren. Das liegt auch daran, dass es mittlerweile viele Branchenakteure gibt, die diesen Trend befeuern: sei es mit hochmodernen Messgeräten zur Feststellung einer Myopie-Progression, sei es mit neuen Brillengläsern, die ein Myopie-Management häufig erst attraktiv für die Eltern von Betroffenen machen. Oder sei es durch zusätzliche Produkte und Ideen der Kontaktlinsenhersteller, die sich nicht kampflos von den Brillenglas-Lieferanten zur Seite schieben lassen möchten.
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Weltweiter Myopie-Anstieg als Treiber
Die weltweite Entwicklung der Kurzsichtigkeit ist so etwas wie der kommunikative Treiber auf Seiten der Verbraucher und wertet auch manches Gegenargument branchenintern ab. Die schon seit längerem bekannte, häufig zitierte Vorhersage des Brian Holden Instituts in Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur globalen Entwicklung der Myopie hat es ja auch in sich: Bis 2050 – das ist gar nicht mehr so fern – seien nahezu 50 Prozent der Weltbevölkerung von Kurzsichtigkeit betroffen.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass keine wirklich nachprüfbaren Zahlen für Deutschland vorliegen und es den Anschein hat, als seien die jungen Menschen hierzulande von der weltweiten, häufig als Myopie-Pandemie bezeichneten Entwicklung nicht betroffen.
Lohnt sich der Einstieg?
Für die Hersteller jedoch kein Grund, auf die Bremse zu treten, sie wären auch schlecht beraten. Selbst wenn mit den neuen Möglichkeiten der Erkennung und „Behandlung“ einer fortschreitenden Kurzsichtigkeit statistisch betrachtet nur wenigen Menschen geholfen werden kann, so ist das immer noch Anlass genug, diese Chance zu ergreifen. Außerdem ist das Interesse auf Seiten der Augenoptiker*innen mittlerweile nahezu greifbar, unabhängig davon, von welcher Seite es angefacht wird. Allerdings muss sich jeder Augenoptiker fragen, ob es sich für ihn lohnt, die neue Dienstleistung ins Portfolio aufzunehmen. Denn Myopie-Management ist nichts, was so nebenher mitlaufen kann und auch nicht nebenher mitlaufen sollte.
Folgerichtig stehen die Fachleute in unserer Branche der Myopie-Kontrolle grundsätzlich eher offen gegenüber. Attraktiv ist zudem für viele Augenoptiker*innen die Zusammenarbeit mit einem Augenarzt, weil sie hier auf Augenhöhe möglich sein sollte und im Interesse der Betroffenen in der Regel alternativlos ist.
Myopie-Management: Ideal für Netzwerker
Die „richtige“ Korrektionsmethode bzw. das „richtige“ Korrektionsmittel zur Verlangsamung einer progressiven Kurzsichtigkeit gibt es nicht. Augenärzte werden weiterhin die Therapie mit Atropin bevorzugen, zumal hier in der Forschung und Entwicklung mit weiteren Fortschritten zu rechnen ist. Die gibt es bei Brillengläsern und Kontaktlinsen auch. Jede Methode kann für sich Erfolge vermelden, doch für viele Experten ist die Kombination aus Brillenglas oder Kontaktlinse mit einer Atropin-Therapie die beste.
Spätestens hier kommt die Zusammenarbeit mit einem Augenarzt ins Spiel, die auch ohne Vorgabe des Brillenglas-Herstellers eine gute Idee ist. Besonders beim Myopie-Management empfiehlt es sich, den Netzwerkgedanken zu pflegen, zum Beispiel neben den Ärzten noch Orthoptisten ins Boot zu holen. Für die in der Regel erstmals mit dem Thema konfrontierten Eltern gibt es zwar ausreichend Informationsmaterial von unterschiedlichen Anbietern, aber die Argumentation pro Myopie-Kontrolle für ihre Kinder wird im Netzwerk leichter fallen. Besorgte Eltern werden in der Regel noch mehr Gewicht auf die Meinung eines Arztes legen als ohnehin.
Prof. Dr. med. Wolf A. Lagrèze von der Klinik für Augenheilkunde im Universitätsklinikum in Freiburg gilt als einer der Myopie-Spezialisten schlechthin. Als solcher und als Augenarzt wird jemand wie er nicht müde, vor Augenoptiker*innen zu betonen, dass er sich vor allem darüber freue, dass das Thema Myopie ein solches Interesse hervorrufe. Allerdings sagt er auch, dass die Prozentzahlen einiger häufig zitierten Studien zur Myopie-Entwicklung zwar stimmten, doch dass die Erkenntnisse daraus nicht neu seien.
Nimmt die Myopie hierzulande überhaupt zu?
Schon vor 130 Jahren stellte man fest, dass Gymnasiasten und Realschüler zu 50 Prozent kurzsichtiger waren als bildungsfernere Jugendliche, betonen nicht nur Augenärzte und anerkannte Myopie-Experten wie Lagrèze. Diese Erkenntnis aber nimmt dem Argument, die Digitalisierung sei Antreiber der Myopie-Progression, den Wind aus den Segeln. Professor Lagrèze mahnte beim digitalen Kongress der Wissenschaftlichen Vereinigung für Augenoptik und Optometrie (WVAO) 2021 vor großem Publikum sinngemäß, dass zwar die Myopie insgesamt etwas zunehme, aber in Deutschland eben noch nicht.
Ob Brillengläser davon unabhängig das Zeug zum Gamechanger haben und das Myopie-Management in der Branche ungeachtet dieser Tendenz weiter vorantreiben? Das werden vermutlich auch die Krankenkassen mitentscheiden, in dem sie die Myopie-Gläser als Heil- oder Korrektionsmittel einstufen oder eben nicht. Die Entscheidung pro wäre wohl der nächste Coup.
Dass die Brillenglas-Hersteller ein gesteigertes Interesse daran haben, versteht sich. Aber auch ohne eine solche Einstufung ist ihnen die Aufmerksamkeit ihrer Kunden gewiss. Brillengläser für die Myopie-Kontrolle laufen den Kontaktlinsen, die dieses Thema schon seit einiger Zeit besetzen, zumindest gefühlt den Rang ab. Ob das am Produkt und dessen Wirksamkeit, an der Marketingmacht der Hersteller oder schlicht am Image der beiden Korrektionsmittel liegt, ist nebensächlich.
Der Erfolg eines Myopie-Managements hängt von einigen Faktoren ab, Kontaktlinsen haben dieselbe Berechtigung, mit im Spiel zu sein, doch Brillengläser erzielen grundsätzlich hierzulande die stärkere Aufmerksamkeit. Und in diesem Segment bekommt Hoya Lens in der nahen Zukunft mehr und mehr Konkurrenz. Während bislang Visall mit seinem Myoslow-Konzept eher im Schatten von Miyosmart (Hoya) unterwegs war, wird Essilor mit dem im Februar 2022 in Deutschland eingeführten Stellest kommunikativ andere Töne anschlagen.
Drei Hersteller – drei Konzepte
Doch wo liegen die Unterschiede in der Wirkungsweise? Es ist interessant zu sehen, dass die drei Hersteller auch drei unterschiedliche Lösungsideen verfolgen. Hoya launchte sein Brillenglas im Frühjahr 2021 begleitet durch einen fulminanten Digitalkongress, der aus der Firmenzentrale in Mönchengladbach heraus den rund 1.400 zugeschalteten Augenoptiker*innen die zugrunde liegende neue „Defocus Incorporated Multiple Segments (D.I.M.S.) Technologie“ vorstellte.
Dabei bilden mehrere hundert kleine Segmente auf der Brillenglas-Vorderfläche alle einen zusätzlichen myopischen Defokus im Auge ab. Beim Blick durch einen pupillengroßen Bereich sei somit immer eine scharfe und defokussierte Abbildung im Auge gewährleistet. Das bietet laut Unternehmen nicht nur ein klares Sehen, sondern vor allem die Möglichkeit, ein unerwünschtes Längenwachstum des Auges zu verlangsamen.
In Hong Kong sammelte Hoya bereits seit 2018 Erfahrungen mit dem Brillenglas, 2019 wurde dort klinisch bewiesen, dass es das Fortschreiten der Myopie bei Kindern im Alter von 8 bis 13 Jahren um durchschnittlich 60 Prozent verlangsame. Hierzu veröffentlichte im selben Jahr das Zentrum für Myopie-Forschung an der Hong Kong Polytechnic University eine Studie, die im British Journal of Ophthalmology veröffentlicht wurde.
Visall verfolgt ein Konzept, in das die Myopie-Gläser integriert sind. Das Konzept enthält die Anamnese, die Refraktion, den „Preference-Test“ und nicht zuletzt das Strategiegespräch. Bis auf den hauseigenen „Preference-Test“ sind das alles Dinge, die beim Myopie-Management eine mindestens so große Wirkung entfalten wie das eigentliche Produkt, insofern liegen sie auch den beiden Brillenglas-Typen der Konkurrenz zugrunde.
Das Myopie-Glas der Schweizer gibt es seit Juni 2021 in Deutschland und bietet eine individuell ausgewählte Nahunterstützung, die den Akkommodationsbedarf und die Akkommodationskonvergenz vermindern soll. Das wiederum soll zur Verringerung oder bestenfalls Beseitigung einer bei einer Kurzsichtigkeit oft vorliegenden Esophorie beitragen.
Asphärische Mikrolinsen auf elf Ringe verteilt
Essilors Stellest hat zur Korrektion der Fehlsichtigkeit eine Einstärken-Zone, die für scharfes Sehen sorgen soll. Die Myopie-Kontrolle wird durch die H.A.L.T.-Technologie erzeugt: Eine Konstellation zusammenhängender asphärischer Mikrolinsen, die auf elf Ringe verteilt sind.
„Sie wurde entwickelt, um zum ersten Mal ein Signalvolumen zu erzeugen, mit dem das axiale Längenwachstum des Auges verlangsamt wird. Die Stärke der Linsen auf jedem Ring wurde so festgelegt, dass das Signalvolumen immer vor der Netzhaut liegt und deren Form folgt, um eine konstante Verlangsamung der Myopie-Progression zu erreichen“, erklärt das Unternehmen die Wirkungsweise in einer Presseinformation.
2018 startete man eine zweijährige, vorausschauende klinische Studie an 167 kurzsichtigen Kindern im hauseigenen Forschungs- und Entwicklungszentrum gemeinsam mit der Wenzhou Medical University in China. Die Ergebnisse der Studie sind für den Brillenglas-Hersteller „ein überzeugender Beweis dafür, dass Stellest-Brillengläser eine der wirksamsten Optionen sind, um die Myopie-Progression bei Kindern zu verlangsamen.“ So zeige die zweijährige klinische Studie eine Verlangsamung der Myopie-Progression um durchschnittlich 67 Prozent im Vergleich zu herkömmlichen Einstärkengläsern bei einer Tragedauer von mindestens zwölf Stunden pro Tag.
Neue Geräte fürs Myopie-Management
Essilor, Hoya und Visall werden das Thema Myopie-Kontrolle und die Möglichkeiten für Augenoptiker*innen, sich so ein neues Tätigkeitsfeld zu schaffen, weiterhin am Laufen halten. Sie werden Unterstützung bekommen, sei es von anderen Brillenglas- und Kontaktlinsenherstellern, sei es von Geräte-Herstellern. Letztere flankieren diesen Trend mit ihrer Technologie, die nicht minder wichtig für ein funktionierendes Myopie-Management ist.
Essilor liefert folgerichtig zur Einführung seines Brillenglases mit dem Launch des „Myopia Expert 700“ das passende Instrument direkt mit, Hoya setzt auf eine Kooperation mit Haag-Streit, deren Lenstar Myopia indes in Deutschland wiederum von Luneau Technology vertrieben wird. Das sind viele Köche, die den Brei in diesem Fall aber offensichtlich aufkochen und nicht verderben.
Myopie-Gläser: Das verlangen die Hersteller
Essilors Stellest kann prinzipiell von jedem Augenoptiker bestellt werden, Trainings werden vom Hersteller angeboten und auch empfohlen.
Hoya geht einen Schritt weiter. Damit Augenoptiker*innen ihr Myopie-Glas anbieten können, „sind das Ansehen unserer Schulungsvideos und das erfolgreiche Absolvieren eines anschließenden Test verpflichtend“, hieß es beim Digitalkongress zur Einführung des Produktes, bei dem auch der niedergelassene Augenarzt und Myopie-Forscher Dr. med. Hakan Kaymak zu Gast war, der deutlich machte, dass die Zusammenarbeit mit einem Augenarzt vonnöten sei: „Er muss beim Myopie-Management mit seiner Verordnung und mit seinen Kontrollen die Federführung innehaben.“ Das Konzept des Herstellers sieht so regelmäßige Kontrollbesuche beim Augenoptiker/ Optometristen vor und setzt eine Kooperation mit einem Augenarzt voraus.
Visall pocht auf den Einsatz des obligatorischen „Myoslow-Preference-Test“ und bietet die entsprechenden Schulungsmaßnahmen an. Etliche Materialien stehen zur Verfügung, die Augenoptiker*innen unterstützen, wie Anamnese- und Dokumentationsbogen, Verbraucherbroschüren, Poster mit Verhaltensregeln für kleinere Kinder und ein Bonusheft zur Erhöhung der Termintreue für die Nachkontrollen. Auch Hoya unterstützt seine Partneroptiker*innen mit Materialien. Mittlerweile gibt es aber auch viele herstellerunabhängige Flyer und Broschüren, die sich zur Information eignen. So hat der Zentralverband für Augenoptiker und Optometristen für Innungsmitglieder einen Kundenflyer produziert (Bestellungen möglich für Innungsmitglieder im internen Bereich der ZVA-Website), was nicht zuletzt bedeutet, dass auch der Verband das Thema Myopie-Kontrolle für wichtig, ja zukunftsträchtig erachtet.