Online versus offline – Der Kunde sagt: Kanal egal!
von Dr. Jürgen Bräunlein,
Dem stationären Einzelhandel droht, gegen den boomenden Online-Handel weiter an Boden zu verlieren. Die Digitalisierung macht auch in der Augenoptik immer mehr Online-Leistungen möglich. Wie Augenoptiker*innen sich im Spannungsfeld von E-Commerce und Fachverkauf vor Ort dennoch behaupten können, verrät Prof. Gerrit Heinemann im Gespräch mit eyebizz-Chefredakteur Jürgen Bräunlein.
eyebizz: Der Online-Handel boomt, Digitalisierungs-Prozesse schreiten voran. Der stationäre Einzelhandel ist – nicht zuletzt auch durch die Pandemie – stark unter Druck geraten. Muss er gerettet werden?
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Prof. Gerrit Heinemann: Der stationäre Einzelhandel muss nicht gerettet werden, sondern sich neu erfinden. Vielfach hat er das schon getan.
Grundsätzlich muss beim stationären Einzelhandel zwischen Fast Moving Consumer Goods und Food und andererseits Non-Food unterschieden werden. Ersterer Bereich bleibt auch die nächsten Jahre überwiegend stationär. Bei Non-Food sieht die Welt anders aus. Bereits jetzt haben die ersten Warengruppen einen Online-Anteil von über 50 %. Allen voran die Bekleidung, sie steht auf Platz eins mit 53,7 % (Stand 2021). Dabei ist Bekleidung nicht unbedingt prädestiniert für den Distanz-Einkauf, trotzdem funktioniert es.
Meine These: Alle Non-Food-Warengruppen inklusive Augenoptik können auf kurz oder lang auf einen Online-Anteil von 50 % kommen, sofern sich der stationäre Handel auch wirklich neu erfindet. Tut er das nicht, könnten es sogar noch mehr werden.
Wie sieht diese notwendige Neuerfindung aus? Sie sprechen in Ihrem Buch von „Intelligent Retail“.
Ich habe den Begriff von Satya Nadella, dem CEO von Microsoft, übernommen. Auf der NAF in New York hat er in eine Keynote dazu gehalten. Drei Dinge sind zukünftig im stationären Einzelhandel wichtig, so die Erkenntnis.
Erstens: Stationäre Händler müssen ihre Kunden kennen. Dazu müssen sie Kundendaten sammeln und auswerten, doch das geschieht zu wenig. Eine Kundenkarte ist immer noch die Ausnahme.
Zweitens: Dieses Thema erfordert digitale Kompetenz, deshalb brauchen die Betriebe Personal mit entsprechender Qualifikation.
Drittens muss der stationäre Einzelhandel die komplette Supply Chain neu ausrichten und, soweit es geht, digitalisieren. Wichtiger Schritt dabei ist, das Risiko, das mit Warenbeständen verbunden ist, zu minimieren, denn daran gehen die meisten Händler kaputt.
An der Kundenfront muss das Thema Multi-Channel angegangen werden. Dabei sollten Händler wissen, wie Kunden ticken, nämlich: „Kanal egal!“ Heutzutage sind 95 % der Kunden nicht kanalspezifisch unterwegs. Sie kaufen produktzentriert. Ich muss sie also dazu befähigen, das Produkt, das sie suchen, online bei mir zu finden, sonst finden sie es woanders.
Erlebnis-Orientierung war einmal ein großer Pluspunkt für den stationären Handel. Gilt das noch?
Der Kunde assoziiert heute ein Erlebnis beim Einkaufen mit anderen Dingen als früher. Für ihn ist ein Schnäppchenkauf unter Umständen ein viel größeres Erlebnis als schöne Deko oder Musik im Laden, die er nicht mag. Oder es kann ein besonderes Erlebnis für ihn sein, wenn er seinen digitalen Gelüsten freien Lauf lassen kann und darin vom Händler unterstützt wird. Etwa wenn man ihm einen bestellten Artikel zur passenden Uhrzeit nach Hause schickt oder ihm Retouren so leicht wie möglich macht.
Welche Bedeutung hat die Fachberatung heute im stationären Handel? Das war immer ein wesentlicher Grund, warum Kunden ein Ladengeschäft aufgesucht haben.
Was das Thema Fachberatung betrifft, wissen wir aus repräsentativen Studien, dass 70 % aller stationären Kunden glauben, dass sie besser informiert sind als das Ladenpersonal.
Was folgt daraus?
Wenn ich das Wissen meiner Kunden nicht übertreffen kann, wäre es für stationäre Händler konsequent, stärker auf Selbstbedienung und Selbstberatung umzustellen. Wenn ich aber Wert auf Fachberatung lege, muss ich meine Mitarbeiter so qualifizieren, dass sie das, was Kunden im Internet finden, toppen. Der Kunde merkt, der Mitarbeiter im Laden ist so überzeugend, etwas Vergleichbares bekommt er im Internet nicht geboten.
Menschen haben heute immer weniger einen Grund, einen stationären Händler aufzusuchen?
Ja. Ich muss den Kunden bei vielen Dingen nicht mehr nötigen, ins Geschäft zu kommen. Das Residenz-Prinzip, das wir über Generationen verinnerlicht haben, hat sich überholt. Ich sitze in meinem Laden, habe als Händler den Anspruch, dass der Kunde immer zu mir kommt und muss auch keine Akquisition betreiben – das hat sich geändert. Auch deshalb, weil Menschen immer weniger Zeit haben. Stattdessen kann ich meinem Kunden Angebote machen, auch außerhalb der Arbeitszeiten bei mir einzukaufen, oder ich komme zum Beratungsgespräch zu ihnen nach Hause. Eine andere Möglichkeit ist, Live-Beratungen im Online-Shop anzubieten. Die Optikerkette Pro-Optik macht das seit 2021.
Sind Digital-in-Store-Lösungen im stationären Einzelhandel sinnvoll, wo man versucht, das Digitale ins Geschäft hineinzunehmen und mit Erlebnis-Qualitäten zu verbinden?
Es gibt Augenoptiker, da darf ich mich nicht einmal in Ruhe umsehen. Da werde ich sogar ermahnt, wenn ich mir eine Brille aus dem Rundständer nehme. Stattdessen sollte man den Kunden auch stationär dazu befähigen, Brillen zu suchen und ausprobieren zu können, ohne dass er jemanden ansprechen muss. Genau dafür kann ich digitale Instrumente bereitstellen, dass der Kunde stationär genauso wie zu Hause digital Brillenmodelle anschauen und vergleichen kann. Und das geht im Fachgeschäft vielleicht noch komfortabler.
Als Best Case für „Intelligent Retail“ nennen Sie in Ihrem Buch den erfolgreichen US-amerikanischen Brillen-Anbieter Warby Parker, einen Vorreiter im Bereich des Direktvertriebs an den Verbraucher. Derzeit betreibt Warby Parker 125 „Start-up-Driven“ Mono-Label-Stores. Was können deutsche Augenoptiker davon lernen?
Warby Parker lebt die „Kanal-egal-Denke“ vor. Dabei zeigt sich, dass viele Kunden nur noch den Store aufsuchen, um die online gekaufte Brille abzuholen und/oder sich vermessen zu lassen. Der „Born Multi Channeler“ zeigt aber auch auf, dass aus Kundensicht die Produkt-Begehrlichkeit das A und O ist. Designerbrillen zu einem Bruchteil des Preises, den ich normalerweise dafür bezahle. Das folgt im Grunde dem Ikea-Prinzip und verdeutlicht einmal mehr, dass rein vertikale Filialisten auch in Zukunft auf der Überholspur sein werden.
Brauchen Augenoptiker einen Online-Shop?
Augenoptiker, die keine Filialisten und eher solitär unterwegs sind, brauchen wenigstens ein digitales Schaufenster. Wenn sie ihren Stammkunden im lokalen Umfeld online keinen Anlaufpunkt bieten, wandern die irgendwann ab. Aber dazu brauche ich keinen Online-Shop, ein digitales Schaufenster mit Kaufmöglichkeit reicht aus. Ein Online-Shop muss stand-alone-fähig sein. Das ist viel komplexer und rechnet sich häufig nicht, weil die Kunden-Akquisition online nochmals ein eigenes Thema ist. Mit einem Online-Shop tritt man automatisch in den Wettbewerb mit nationalen Anbietern. Auch diese Konsequenz will bedacht werden.
Sie waren an dem Forschungsprojekt „ON4OFF” beteiligt. Es ging im Kern darum, den Einzelhandel in der Innenstadt zu retten. Ein Ziel war es, eine Strategie zu finden, mit der mittels Künstlicher Intelligenz Online- und Offline-Shopping verschmelzt werden können. Was waren die Erkenntnisse aus dem Projekt?
Wir wählten als konkretes Beispiel eine regionale, mittelständische Parfümerie und wollten dem Ladenpersonal Hilfsmittel an die Hand zu geben, auf Basis von Kundendaten bessere Empfehlungen zu geben. Zudem sollte den Kunden geholfen werden, selbst schneller das für sie geeignete Produkt zu finden. Wir stellten jedoch fest, dass das Vorhaben schon daran scheitert, dass noch zu wenig Kundendaten gesammelt wurden. Auch gab es starken Widerstand von Seiten der Mitarbeiter, die Angst hatten, durch Künstliche Intelligenz ersetzt zu werden.
Aber das Projekt wird fortgesetzt, im nächsten Schritt werden wir uns mit der Customer Journey beschäftigen. Heute ist es nicht mehr der Hochglanz-Prospekt, wo der Einkaufsprozess beginnt, sondern der Kunde steigt digital ein. Schon jetzt werden rund 45 % aller Werbeausgaben in Deutschland für digitale Kanäle ausgegeben, Tendenz steigend. Doch der stationäre Handel hierzulande investiert lediglich 10 % des Werbebudgets in digitale Werbung. Da muss dringend umgeschichtet werden.
Wie das gehen kann, zeigt wieder einmal Ikea. In den USA hat das Unternehmen schon vor Jahren den Print-Katalog abgeschafft und auf Digital-Katalog umgestellt. Aber nicht nur das: In Kooperation mit Facebook wurden die Kataloge auf jeden einzelnen Kunden zugeschnitten. Millionen von Amerikanern bekommen seitdem einen individuellen Ikea-Katalog.
Individuell kuratierte Angebote sind also eine Überlebens-Strategie für stationäre Händler? Sie werden für Menschen immer attraktiv sein?
Wenn ich es schaffe, wirklich begehrliche Produkte zu haben, dann ist der Kunde auch bereit, Schmerzen in Kauf zu nehmen. Da muss ich an einen Augenoptiker in Münster von früher denken. Er bot für stark Fehlsichtige sehr kleine, spezielle Brillen an. Vor seinem Geschäft war immer eine Riesenschlange, er hat aber nur zwei Leute gleichzeitig hineingelassen. Auch waren keine Brillen in seinem Geschäft zu sehen. Er ist dann in den hinteren Raum gegangen, hat drei Fassungen geholt, auf den Tisch gelegt und gesagt: Die sind es. Wenn ein Kunde sagte: Nein, ich will noch andere haben, antwortete er: Ja, dann habe ich nichts für dich. Er hat aber trotzdem ein gutes Geschäft gemacht.
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Dr. Gerrit Heinemann (* 1960 in Osnabrück) ist Experte für E-Commerce, Online- und Multi-Channel-Handel und beschäftigt sich als Wirtschafts-Wissenschaftler mit der Zukunft des Handels. Seit 2005 ist er Professor für BWL, Management und Handel an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach und leitet dort das eWeb Research Center. Zuletzt von ihm erschienen: „Intelligent Retail. Die Zukunft des stationären Einzelhandels“, Springer Gabler 2021.
Digitales Angebot auf eigener Facebookseite ist an sich für den Kunden interessant.
Das Beispiel Münster ist mir bekannt, ist aber nicht ganz korrekt dargestellt,
dar waren noch mehrere Details zusätzlich und außerdem ist das schon
Jahre her. Die Käuferstruktur hat sich auch in Münster wesentlich geändert!
Digitales Angebot auf eigener Facebookseite ist an sich für den Kunden interessant.
Das Beispiel Münster ist mir bekannt, ist aber nicht ganz korrekt dargestellt,
dar waren noch mehrere Details zusätzlich und außerdem ist das schon
Jahre her. Die Käuferstruktur hat sich auch in Münster wesentlich geändert!