Brillen, die high machen, das Wortspiel muss ja kommen, wenn es um Fassungen aus Hanf geht. Aber was Sam Whitten in seiner Manufaktur Hemp Eyewear im schottischen Edinburgh aus der Superpflanze anfertigt, versetzt aus anderen Gründen in Euphorie: Es sind überzeugend nachhaltige Brillen – und weltweit einmalig.
Als Sam Whitten mit Anfang 20 für ein Universitätsprojekt über Hanf forschte, erkannte er dessen Potenzial als erneuerbare Ressource zur Herstellung von Öko-Produkten und entwickelte eine Technologie, die rohe Hanffasern zu einem festen und leichten Material auf Pflanzenbasis verarbeitet. Der Forschergeist machte sich bezahlt. Seit 2014 fertigt der Produktdesigner die weltweit erste Brille aus Hanffasern unter dem Namen Hemp Eyewear. Designt und produziert wird in „The Biscuit Factory“, einer ehemaligen Keksfabrik in Edinburghs altem Industriehafen Leith.
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Die Superkräfte von Hanf
Hanf gehört zu den frühesten kultivierten Fasern und fand bereits 10.000 v. Chr. in chinesischen Zivilisationen Verwendung als Medizin, für Papier und Stoffe und schaffte es mit seinen Möglichkeiten bis nach Europa. Im Industriezeitalter wurde Hanf überraschend neu entdeckt: 1941 nutzte es Henry Ford für Autokarosserien. 2019 baute ein kanadisches Unternehmen an einem kleinen Flugzeug aus dem Pflanzenmaterial, das den Biokraftstoff gleich mitliefert.
Was Sam Whitten für seine Brillen nutzt, besteht aus Industriehanf, biologisch angebaut in Frankreich. „Es ist eines der nachhaltigsten, umweltfreundlichsten und vielseitigsten Materialien der Welt und das Material der Wahl. Das einzige Nebenprodukt, das bei der Verarbeitung entsteht, ist Wasserdampf oder H2O – sauberer geht es nicht“, schwärmt der 31-Jährige und führt aus: „Die Herstellung einer Brillenfassung aus Hanf spart im Durchschnitt 1,2 kg CO2 im Vergleich etwa zu einem Kunststoffrahmen aus China.“
Die Hanfpflanze braucht rund 90 Tage bis zur Reife und besteht aus einem inneren Teil, dem „Schorf“, der für Bauzwecke verwendet wird (Hanfbeton), während die Samen für Kosmetika, Öle und Biokraftstoff gute Dienste leisten. Die „Bastfasern“ der Pflanze werden für Papier und Textilien verwendet – oder eben für Hemp-Brillen.
Verrottung erwünscht
Um das zu gewinnen, was die Schotten brauchen, muss Hanf einen Rotteprozess durchlaufen, d. h. die Pflanze darf auf natürliche Weise verrotten, was vier bis sechs Wochen dauert. Das erleichtert die Trennung der Fasern von der Spelze, die durch einen „Brechprozess“ erfolgt. Bei diesem Verfahren werden die Stängel von Hand zerkleinert und die Fasern mit einer Drahtbürste verfeinert.
Zum festen Material werden die Rohfasern dank der Beimengung eines leistungsfähigen Öko-Bindemittels. Nun ist der Hanf stark und überaus leicht, vergleichbar mit Kohlefaser. Dann geht es ans Sägen und Feilen. „Wir verwenden handgeführte Rotationswerkzeuge und feines Schleifpapier, um eine wirklich glatte Oberfläche zu erzielen. In diesem Schritt bringen wir die schöne Tiefe und das natürliche Aussehen unseres Hanfmaterials zur Geltung“, so Whitten. Eine speziell angefertigte Oberfräse, von Hand gesteuert, hilft beim Rillen der V-Nut.
„Wir wollen Kunden mit Brillen begeistern, die wirklich Einzigartiges, Nachhaltiges und Handgemachtes bieten.“ Hemp Eyewear
Das von Natur aus wasserdichte Material erhält eine zusätzliche Beschichtung aus umweltfreundlichem Harz. Politur von Hand, das Anbringen von Nieten und Scharnieren, manuelle Montage: 75 bis 100 Arbeitsschritte kommen da für Sam Whitten und drei Mitarbeiter zusammen, ein Prozess von rund vier Wochen. In der Designphase und teilweise beim Erstellen der Formen hilft der Computer.
Kurkuma und Rote Bete
Die ersten Modelle – „Natural Hemp“ – waren in Beige- und Brauntönen gehalten. Um Farbe ins Spiel zu bringen, testete Sam Whitten natürliche Pigmente. So entstand 2019 die „Superfood Series“ aus verschiedenen Farben mit jeweils drei Modellen.
Los ging es mit Rote-Bete-Farbstoff für die leuchtenden Rosa- und Rottöne der „Cocktail-Linie“, eine Reminiszenz an nächtliche Bars und den Laissez-faire-Stil der 80er. Für die „Mellow Collection“ wird mit einer Kurkuma-Lösung gefärbt, die satte Gold- und Bernsteintöne ergibt – Mellow Yellow und die Farbpalette der 60er. Die grünen Modelle der Linie „Trailblazer“ (dt.: Wegbereiter) werfen einen Blick auf die Geschichte des Hanfs und seine ursprüngliche Farbe; erzielt wird das Ergebnis mit natürlichem Chlorophyll.
Die Farbe für die blaue Kollektion „Holy Mackerel“ (dt.: Heilige Makrele) erinnert ans Meer und stammt auch von dort. Spirulina-Algen wurden in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern unter großem Aufwand zu einem thermostabilen Färbemittel entwickelt. Die faserige Struktur bleibt bei allen eingefärbten Hanf-Brillen deutlich sichtbar.
Recyceltes Schottenkaro
Der neueste Clou aus der Old Biscuit Factory würdigt das heimische Schottenkaro. Zwei Jahre tüftelte das kleine Team, bis es gelang, Schottenstoffreste, die bei der Herstellung von Kilts in einer nahegelegenen Fabrik anfallen, zu soliden Brillenfassungen zu recyceln.
Organische Hanffasern werden mit kleinen Stücken des karierten Stoffs kombiniert und in eine maßgeschneiderte Form eingebettet. Um sicherzustellen, dass das Tartan-Muster in der Fassungsform gerade ausgerichtet ist, arbeiten die Brillenbauer mit gezeichneten Schablonen.
Drei Modelle mit zwei Tartan-Varianten gibt es: „MacDonald Clan Modern“ und „Irish National“. Der bekannte Clan MacDonald prägte mit seinem klassisch roten Tartan jahrhundertelang die Highlands. Der irische National-Tartan kam Ende des 19. Jahrhunderts auf und sollte Land, Kultur und Identität feiern.
Mythische Kreaturen aus Schottland standen Pate für die Modellnamen Nessie, Kelpie und Wulver. Das Ungeheuer von Loch Ness kennt jeder, der Wulver ist eine wolfsähnliche humanoide Kreatur in der Folklore der schottischen Shetland-Inseln und der Kelpie ein gestaltwandelnder Geist, mal pferdeähnlich, mal von menschlicher Gestalt, und angeblich in schottischen Seen zu Hause.
Bei den Gläsern der Sonnenbrillen denkt Sam Whitten ebenfalls an die Umwelt: „Die zweitgrößte Kunststoffquelle in der Brillen-Industrie sind Gläser, die in der Regel aus synthetischen Kunststoffen hergestellt werden. Bei Hemp Eyewear verwenden wir Mineralglas, das aus natürlichen Elementen wie Sand und Quarz hergestellt wird, zu 100 % recycelbar ist und keine ökologischen oder umweltschädlichen Auswirkungen hat.“ Die Titan-Nasenpads kommen aus Deutschland.
Erhältlich sind die Hanfbrillen derzeit in Großbritannien, Frankreich, Deutschland, USA, Kanada, Italien und der Schweiz. Gefertigt wird auf Bestellung, mit Lieferzeiten von vier bis zehn Wochen, je nach Aufwand und Einfärbung. Sollte ein Modell nicht mehr zu reparieren sein, recycelt Hemp es und gibt einen Rabatt auf eine neue Hanf-Fassung.
Identische Form, einzigartige Details
Die zufällig ausgerichteten Fasern in Kombination mit hochqualifizierter Handwerkstechnik führen zu Fassungen, die in ihrer Form identisch, im Detail aber einzigartig sind und in ihrer Ästhetik auffallen. Kunden sollen in Zukunft die Möglichkeit bekommen, ihre eigenen Kleidungsstücke oder Stoffe in einer maßgeschneiderten Brille zu recyceln.
Auch in der Produktpalette hat Sam Whitten noch einiges vor. Neben den Korrektions- und Sonnenbrillen-Kollektionen „Natural Hemp“, „Superfood Series“ und „Tartan Eyewear“ hat der Schotte schon Hanf-Uhren auf den Markt gebracht und plant eine Möbelserie. Mit dem Hemp Design Studio bietet er Unternehmen Designberatung an bei der Entwicklung von Produkten aus der Superpflanze.
Übrigens: Nicht alle Einzelheiten von Henry Fords Hanfkonzept sind historisch belegt. Die Idee wurde wohl nicht weiterverfolgt, weil die Pflanze 1937 in den USA verboten wurde. Außerdem war Sprit damals unglaublich günstig. Aber wer weiß, die Zeiten ändern sich –möglicherweise wird die Superpflanze noch ihren Einsatz bei Autos und Sprit bekommen.
Hemp Eyewear: „Die Entdeckung war ein Heureka-Moment!“
Drei Fragen an Sam Whitten, Gründer und Designer von Hemp Eyewear
Was fasziniert Sie so an Hanf?
Nachdem ich 2014 über Plastikverschmutzung recherchierte, las ich über den Great Pacific Garbage Patch, ein Gebiet 12-mal so groß wie Großbritannien und weltweit die größte Plastikmüll-Ansammlung im Pazifischen Ozean zwischen Hawaii und Kalifornien. Ich dachte mir, dass es eine bessere Lösung für Plastikmaterial geben muss, und stürzte mich in das Thema nachhaltige Brillenmaterialien.
Dabei stieß ich auf Industriehanf – die Entdeckung war ein echter Heureka-Moment. Für mich als Designer war die Vielfalt der verfügbaren Hanf-Bestandteile sehr aufregend, weil wir aus den verschiedenen Teilen der Pflanze fast alles herstellen können.
Gab es je negative Kommentare darüber, dass Sie eine Drogenpflanze für Ihre Brillen nutzen?
Nein. Die Leute mögen den ökologischen Aspekt unseres Produkts und reagieren nicht negativ darauf. Wenn überhaupt, dann machen sie Witze über die Verbindung zu Cannabis als Droge. Auf die Frage „Kann man die Brille rauchen?“ antworten wir natürlich: „Nein!“.
Bei dem von uns verwendeten Material handelt es sich um Industriehanf. Industriehanf kann nicht zum Drogenkonsum verwendet werden, sie wird oft mit der Pflanze verwechselt, die ihn hervorbringt, da die ikonische 5-Finger-Blattform bei beiden Pflanzen gleich aussieht.
Sie legen neben Nachhaltigkeit und Handarbeit großen Wert auf Einzigartigkeit. Warum?
Einzigartigkeit ist Teil unsere Designphilosophie. Wenn das, was wir herstellen oder als Prototyp entwerfen, nicht einzigartig ist, dann lassen wir es bleiben. Das hängt mit der Wahl des Materials, der Verwendung von Farben, Texturen, Formen oder einer Kombination von Faktoren zusammen. Als Unternehmen wollen wir nicht so sein wie andere auf dem Markt, denn das wäre langweilig und würde uns nicht abheben.