Im thüringischen High-Tech-Standort Jena stößt jeder unweigerlich auf die Optik-Pioniere, die den Ruf der Stadt begründeten und deren Erfindungs-Geist bis heute Forscher und Entwickler beflügelt. Jena steht weiterhin für moderne Technik rund um das Licht.
Anfang 1990, die Grenze zur DDR ist einige Monate offen. Eine Gruppe von Studierenden der Fachschule für Augenoptik München fährt mit einigen Lehrkräften nach Jena, um Studierende und Kollegen an der Fachschule für Augenoptik „Hermann Pistor“, Augenoptik-Betriebe und das Optische Museum zu besuchen. Die Autorin dieses Artikels ist mit dabei und erinnert sich noch heute an unbeschreibliche Eindrücke einer Reise in vergangene Zeiten dieser damals schon engagierten Optik-Hochburg mit auffallend hilfsbereiten, offenen und einfallsreichen Menschen. Jena ist bis heute eine weltoffene Stadt geblieben, ein High-Tech-Standort, nicht nur der Augenoptik und der Optometrie, sondern vieler neuer Zukunfts-Technologien rund ums Licht, die sich ihren Namenszusatz „Lichtstadt“ rundum verdient.
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Ihren Ruf als Optik-Standort verdankt die Stadt mit rund 110.000 Einwohnern den erfindungsreichen Pionieren Carl Zeiss, Ernst Abbe und Otto Schott, die dort im 19. Jahrhundert ihre ersten Werkstätten für optische und feinmechanische Instrumente und Spezialglas gründen. Das Optische Museum sammelt seit 1922 ihre wegweisenden Entwicklungen, zunächst nur für Forschungszwecke, seit 1965 auch offen präsentiert für die interessierte Öffentlichkeit. Aktuell wegen des Umbaus bis Anfang 2028 geschlossen, macht sich die inzwischen in Deutsches Optisches Museum (D.O.M.) umbenannte Institution mit neuen Technologien zukunftssicher.
Prof. Dr. Timo Mappes, Direktor des D.O.M.: „Jena ist aus globaler Perspektive seit gut 150 Jahren anhaltend der Hotspot der Optik und Photonik. Viele verbinden mit Jena den Beginn des auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden Baus der Mikroskope und die zahlreichen dadurch ermöglichten Durchbrüche in den Natur- und Lebenswissenschaften. Die unmittelbaren Beiträge aus der Universitätsstadt im Herzen Thüringens sind bisher jedoch den wenigsten bewusst: Das Design der milliardenfach genutzten Einstärken-Brillengläser ist eine Jenaer Entwicklung, genauso wie die Entspiegelung auf den Brillengläsern, die das Leben von Milliarden Menschen erleichtert, die bereits 1935 in Jena zum Patent angemeldet wurde.
Der mittelbare aktuelle Beitrag auf den gelebten Komfort mag noch höher sein: So verfügt jedes aktuelle, elektronische Produkt über Chips, deren Strukturen nur mit einer Technik hergestellt werden können, die in Jena entwickelt und 2020 mit dem Deutschen Zukunfts-Preis ausgezeichnet wurde. Dieser jährlich an nur einen Preisträger vergebene, renommierteste Innovations-Preis Deutschlands wurde mittlerweile zum vierten Mal an Forschende aus Jena verliehen – stets zu Lösungen und Produkten der Optik und Photonik. Kein Ort in Deutschland hat eine vergleichbare Innovationsdichte. Damit ist Jena der bestmögliche Standort für das deutsche Leitmuseum der Optik und Photonik.“
Institutionen der Weiterbildung
Die 1918 offiziell eröffnete Fachschule für Augenoptik „Hermann Pistor“ bildet schon seit 1917 staatlich geprüfte Augenoptiker und Meister aus und ist die weltweit älteste in diesem Bereich. „Optometrie-Pabst“ Hermann Pistor ist von 1919 bis 1951 deren Direktor. 1997 zieht die Fachschule um ins Staatliche Berufsbildende Schulzentrum (SBSZ) Jena-Göschwitz.
1991 gesellt sich die Fachhochschule Jena dazu, 2014 umbenannt zur Ernst-Abbe-Hochschule Jena. Seit einigen Jahren nicht nur Thüringens größte, sondern auch forschungsstärkste Hochschule für Angewandte Wissenschaften. 4.300 meist junge Menschen studieren hier (21 Prozent aus dem Ausland) in rund 50 Bachelor- und Master-Studiengängen, davon rund 500 im Fachgebiet Optometrie.
„Miteinander auf Augenhöhe“
Dass Zeiss seinen Konzern-Mittelpunkt längst in Aalen und Oberkochen hat und die Schott Glaswerke in Mainz, tut dem Forschungsgeist der Stadt keinen Abbruch. Zu den wichtigsten Arbeitgebern unter den über 100 Unternehmen für Optik und Photonik zählen laut „Jena Wirtschaft“ heute immer noch Zeiss (mehr als 2.000 Mitarbeitende) Jenoptik AG (Standorte Jena inkl. Triptis, 1.700 Mitarbeitende) und Schott (500). Neben der Friedrich-Schiller-Universität, der EAH Jena und dem einzigen Universitäts-Klinikum in Thüringen mit 26 Fachkliniken, gibt es noch 14 außer-universitäre Forschungs-Institute von Weltrang.
Wilfried Röpke, Geschäftsführer der Wirtschaftsförderungs-Gesellschaft Jena mbH: „Jena ist nicht nur ein nationaler, sondern auch ein globaler Leuchtturm der Optik- und Photonik-Branche. Mit einer jahrhunderte-alten Tradition, begründet durch Carl Zeiss, Ernst Abbe und Otto Schott, hat sich Jena zu einem Zentrum für Innovation, Forschung und Hightech-Industrie entwickelt. Unsere Unternehmen und Forschungs-Einrichtungen setzen weltweit Standards in Bereichen wie Medizintechnik, Laser- und Messtechnik sowie Präzisions-Optik.
Hier wird nicht nur Wirtschaftskraft generiert, sondern Lösungen für globale Herausforderungen wie Gesundheit, Umwelt und Digitalisierung entwickelt. Als Wirtschafts-Förderung sehen wir es als unsere Aufgabe, dieses Potenzial weiter zu stärken, die Rahmenbedingungen für die lokalen Unternehmen positiv zu gestalten und die internationale Strahlkraft unseres Optik-Standorts auszubauen.“
Das Netzwerk aus Hochschulen, Wirtschaftsförderung und Industrie ist so immens, dass man beinahe den Überblick verliert: Neun Interessen-Verbände und -Vereine pushen neben den Feldern Gesundheits-Technologie, Präzisions-Technik und Umwelttechnologie auch die Branchen Optik und Photonik. Darunter ist das Photonik-Netzwerk OptoNet e.V., das sich seit 25 Jahren in Thüringen um die Interessen der Wissenschaft rund ums Licht kümmert. Photonische Technologien stecken in Glasfaser, Laser und LED; optische Verfahren sorgen für die Übertragung, Speicherung und Verarbeitung von Information.
Aus den 13 Gründungsmitgliedern sind inzwischen 132 Akteure geworden, Tendenz steigend, mit über 18.000 Beschäftigten, davon 10.000 allein in Jena, so Nora Kirsten, eine der beiden OptoNet-Geschäftsführerinnen. „Die Region Jena gilt national und international als führender Cluster für die Technologen rund um das Licht. Ein wichtiges Alleinstellungs-Merkmal ist die Breite der technologischen Kompetenzen – von der klassischen Optik über die Mechanik hin zu Sensor-Technologien, Faser-Optik, Lasertechnologien und optische Materialien.“
Die gegenseitige Unterstützung von Schulen, Uni, Wissenschafts-Instituten und Industrie schafft ein hervorragendes Klima für die Optik-Branchen, wie Prof. Dr. Stephan Degle, Professor für Optometrie und Ophthalmologische Optik im Fachbereich SciTec und Studiengangsleiter für Optometrie an der EAH Jena, bestätigen kann: „Jena ist unique und weltbekannt als traditioneller und innovativer Standort für Optik und Optometrie. Es besteht ein riesiges Netzwerk verschiedener Professionen an unterschiedlichen Einrichtungen, das gehegt und gepflegt wird und von dem insbesondere die Studierenden profitieren. Die Besonderheit ist vor allem das Miteinander auf Augenhöhe – und das geht weit über die Stadt hinaus. Kooperationen bestehen überregional und weltweit, sodass Studierende alle Möglichkeiten auch für internationalen Austausch haben.“
Die Anziehungskraft der Optik-Stadt kennt auch Degle aus eigener Erfahrung: „Aufgrund der Attraktivität des Standorts, vor allem im Bereich Optik und Optometrie und dem einhergehenden Weltruf, ist es eine Ehre, hier in Jena zu studieren und zu arbeiten. Das war auch für mich vor 18 Jahren keine Frage, als der Ruf aus Jena kam.“
Gekommen, um zu bleiben
In der Lichtstadt geblieben sind auch Thomas Harnisch und Sebastian Marx, die Geschäftsführer des Fachgeschäfts Jenalens – Kontaktlinsen – Brillen – Optik. Zunächst nur auf Kontaktlinsen-Versorgung ausgelegt, werden nach und nach auf Kundenwunsch auch Brillen als Ergänzung angeboten.
Seit 2009 dabei ist Thomas Harnisch (Bachelor of Science Augenoptik/ Optometrie): „Nach Abschluss meiner Ausbildung in Leipzig und Dresden entschied ich mich für ein Studium an der EAH Jena. Jena faszinierte mich bereits seit meinen ersten Schritten in der Augenoptik, insbesondere aufgrund seiner bedeutenden optischen Historie und der starken Präsenz von optischer Industrie und Forschung. Auch das Wissen, dass Jena bei 100.000 Einwohnern etwa 25.000 Studierende hat, empfand ich als großen Pluspunkt für die Stadt, in der man studieren möchte.“
Im gleichen Jahr fängt Dr. Sebastian Marx im Betrieb an. Auch er kommt, um zu bleiben: „Prinzipiell war ich hinsichtlich der Hochschule offen. Allerdings absolvierte mein Großvater eine Weiterbildung in Jena zum Augenoptikermeister und empfahl mir, ebenfalls dorthin zu gehen. Ich kannte Jena im Zusammenhang mit Zeiss, aber habe erst später verstanden, welche Bedeutung die Stadt im Optikbereich für die ganze Welt einnimmt.“ Der Master of Science und Dipl.-Ingenieur (FH) ist außerdem Geschäftsführer beim Forschungs-Institut Jenvis Research und Lehrbeauftragter an der EAH.
Oft sei auch die Kundschaft optisch versiert, so Harnisch: „Die Stadt, mit ihrer reichen optischen Tradition, prägt das Bewusstsein der Menschen für Qualität – insbesondere im Bereich der Optik. Für uns als Augenoptikgeschäft ist diese hohe Erwartungshaltung sowohl Fluch als auch Segen. Diese Herausforderung motiviert uns jedoch, stets auf höchstem Niveau zu arbeiten.“
Jena als internationaler Standort mit Fachkräften aus aller Herren Länder bedeute auch internationale Kundschaft, so der Augenoptiker: „Die Lichtstadt Jena ist nicht nur durch die EAH geprägt, sondern auch durch die Friedrich-Schiller-Universität, die viele internationale Studierende und Fachkräfte anzieht. Weiterhin hat die Stadt durch weltweit agierende Unternehmen wie Zeiss, Jenoptik und Jenapharm sowie bedeutende Forschungs-Einrichtungen, wie das Leibniz-Institut für Photonische Technologien und das Fraunhofer-Institut für Angewandte Optik und Feinmechanik, eine starke internationale Ausstrahlung. Englisch ist damit ein häufig eingesetztes Werkzeug bei der Kunden-Kommunikation.“
Gewinnung von Fachkräften schwieriger
Dem Thema Fachkräfte-Mangel muss sich aber auch die Lichtstadt stellen. Nora Kirsten: „Die Gewinnung von Fachkräften wird immer schwieriger. Dabei sind nicht nur Physiker:innen und Ingenieur:innen schwer zu finden, auch die Rekrutierung von Facharbeiter:innen und Techniker:innen verschiedener Spezialgebiete wird zunehmend zu einer langwierigen Herausforderung.“ Knapp zwei Drittel der Photonik-Firmen sehen diese Situation laut Kirsten mittlerweile als ernste Gefahr für die Branche. 61 Prozent konstatieren, dass der Mangel an Fachkräften das Wachstum bremst.
„Zuwanderung ermöglicht die erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung Jenas. Auch die hohe Exportquote der Unternehmen, ihre weltweiten Märkte und Kundenbeziehungen zeigt, wie international der Standort Jena ist und bleiben muss.“ (Jena Wirtschaft)
Die Unternehmen weiteten deshalb ihr Engagement aus. „Viele Unternehmen sind selbst aktiv und investieren Zeit und Geld für die Unterstützung regionaler Initiativen. Auch bei den Anforderungen an Bewerber gehen sie gezwungenermaßen Kompromisse ein. Dennoch können die Unternehmen bei Weitem nicht kompensieren, was durch Unterrichtsausfall und Lehrkräfte-Mangel auf der Strecke bleibt“, erklärt die OptoNet-Geschäftsführerin.
Weiterhin weltoffen
Stadt, Industrie und Institutionen bemühen sich seit langem gezielt auch um internationale Fachkräfte. Während kurz nach der Wiedervereinigung Deutschlands der Anteil der ausländischen Mitbürger noch bei einem Prozent liegt, sind es 2023 13 Prozent, der Großteil kommt aus Europa und Asien. Ein hoher Anteil von 45 Prozent möchte laut einer Befragung des Zentrums für Sozialforschung Halle für immer in Deutschland bleiben. Und eine deutliche Mehrheit davon möchte auch in Jena bleiben, insgesamt 74 Prozent aller Befragten.
„Die Anwerbung internationaler Fachkräfte und ein weltoffenes Klima bleiben für den OptoNet e.V. und die Unternehmen sowie Forschungs-Einrichtungen der Branche von zentraler Bedeutung.“ (Nora Kirsten)
Inwieweit die aktuellen politischen Verhältnisse im Landtag von Erfurt das weltoffene Klima der Stadt beeinflussen werden, bleibt abzuwarten. Die AfD, mit knapp 33 Prozent stärkste Partei der letzten Landtagswahl, bleibt durch die „Brombeer-Koalition“ aus CDU, BSW und SPD (noch) zwar weiter außen vor, doch deren Ideologie schreckt etliche offensichtlich alles anders als ab. Nora Kirsten stellt klar: „Die Anwerbung internationaler Fachkräfte und ein weltoffenes Klima bleiben für den OptoNet e.V. und die Unternehmen sowie Forschungs-Einrichtungen der Branche von zentraler Bedeutung. Die Photonik-Industrie bekennt sich daher ohne Wenn und Aber zu den Zielen der Weltoffenheit und sieht sich dabei als engagierter Partner der neuen Landesregierung.“
Den Veränderungen stellen
Wie geht es also weiter mit der Lichtstadt Jena? Harnisch ist zuversichtlich: „Wir merken alle, dass die Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und die Veränderung der Bevölkerungs-Struktur mit weniger Kindern unser Arbeitsleben verändert. So man sich diesen Gegebenheiten stellt und anpasst, steht aus meiner Sicht einer positiven Perspektive nichts im Wege. Das Sehen ist und wird auch weiterhin der wichtigste Sinn des Menschen sein und deshalb wird die Augenoptik auch ein wichtiges Fachgebiet in der Zukunft bleiben.“
Die EAH Jena hat sich ebenfalls Gedanken gemacht: „Wir haben ein sehr erfolgreiches und umfassendes Programm entwickelt. Aktuelle Veränderungen, die sich auf die Lehre, die Forschung und die Entwicklung auswirken und die wir in die Lehre einbinden, sind zum Beispiel: Einbindung und Nutzung von Künstlicher Intelligenz und Telemedizin, interprofessionelle Vernetzung für eine Optimierung der Gesundheits-Vorsorge, Auswirkungen von Digitalen Medien und vieles mehr“, sagt Prof. Degle.
Allein 2023 kommen in Jena 266 Patente auf 100.000 Einwohner, deutschlandweit liegt der Durchschnitt bei 46 pro Jahr. Im Prognos-Städte-Ranking erzielt die Stadt Platz 1 im Dynamik-Ranking (Quelle jeweils: Jena Wirtschaft). An einem Mangel an Erfindungsreichtum und Begeisterung für Optik und Licht wird es für eine strahlende Zukunft im gut vernetzten Jena bestimmt nicht liegen.