Refraktionsbestimmung: Noch entscheiden wir, wo‘s lang geht!
von Ingo Rütten,
Vollautomatische Geräte und Methoden zur Refraktionsbestimmung auf Entfernung gibt es nicht erst seit diesem Jahr. Die optometrischste aller optometrischen Dienstleistungen des Augenoptikers steht 50 Jahre nach dem „Refraktionsurteil von 1973“ zunehmend auf dem Prüfstand: scheinbar angegriffen von hochmoderner Technologie, die immer einfacher, schneller Korrektionswerte für Brillen und Kontaktlinsen ausspuckt. Und das mittlerweile sogar ohne Mitarbeit des Augenoptikers und das Fachwissen der Augenoptikermeisterin. Ingo Rütten wirft einen Blick zurück auf das Refraktionsurteil von 1973 und blickt im Gespräch mit dem Optometrie-Experten Prof. Hans Jürgen Grein nach vorn.
Im Jubiläumsjahr des „Refraktionsurteils von 1973“ wird weiter der Einsatz modernster Technologie diskutiert, aber auch über die althergebrachte Methode der subjektiven Refraktionsbestimmung – jetzt jedoch remote, also aus der Ferne. Beides lässt den Augenoptikermeister im Betrieb weit außen vor, der hat dafür mehr Zeit für Beratung und andere optometrische Dienstleistungen im Sinne der Augengesundheit seiner Kundschaft. Man muss aber fünf Jahrzehnte zurückblicken, um zu verstehen, warum die Refraktionsbestimmung ein solch heißes Eisen ist und warum sich eine Diskussion um deren weitere Entwicklung lohnt.
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„Keine Handlung des Heilpraktikergesetzes“
Im Herbst 1973 stellt das Bundessozialgericht ein für alle Mal fest: Eine Sehstärkenbestimmung ist keine Handlung des Heilpraktikergesetzes, sondern eine handwerkliche Leistung mit Hilfe eines physikalischen Messverfahrens, also keine Ausübung der Heilkunde. Was heute bei Screenings oft zu einer gewissen Verunsicherung führt, sorgte schon vor mehr als 50 Jahren für Streit zwischen Augenoptikern und Augenärzten. 1968 hatte die juristische Auseinandersetzung begonnen. 1973 musste das Bundesgericht die Frage beantworten, ob bei der Verordnung einer Zweitbrille nur durch die Augenoptikerin – ohne das Mitwirken eines Ophthalmologen – die Kosten von den Krankenkassen übernommen würden.
Nur darum ging es, zunächst. Auch deswegen wurde das Ganze im Zuge des Gesetzes zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung (HHVG) plötzlich wieder diskutiert und von Seiten der Augenärzte zum Anlass genommen, über das Refraktionsrecht erneut nachdenken zu wollen. 2017, also eineinhalb Jahrzehnte nach der Krankenkassenreform, kamen zumindest einige Brillengläser wieder in den Leistungskatalog. Das zu einer Zeit, in der etliche Augenärztinnen längst froh darüber waren, dass die Augenoptiker um sie herum sich so gut um die Refraktionsbestimmung ihrer Patienten kümmern. So blieb der Gedanke im Ansatz stecken.
Refraktionsbestimmung kein „Hexenwerk“
Auch 2017 war es nicht immer der Augenoptikermeister, der sich um die neuen Brillenglas-Werte seiner Kundinnen kümmerte. Heute ist die Refraktionsbestimmung ohnehin kein „Hexenwerk“ mehr, denn die Technologie entwickelt sich rasant weiter. Doch eines bleibt sicher: Wenn es kompliziert wird und der Kunde aus der Reihe fällt, ist Fachwissen nötig, dann wird vermutlich nur die Augenoptikermeisterin oder der Bachelor eine adäquate Lösung für das Sehproblem finden.
Ein Pluspunkt der Technologie ist, dass sie einen Schwachpunkt der Sehstärkenbestimmung eliminiert: den Prüfer! Dessen Erwartungshaltung, Zeitdruck und Empathie beeinflussen das Ergebnis maßgeblich. Mindestens so sehr, wie es die physiologischen Schwankungen des Sehens der Probanden tun: Die Benetzungssituation der Hornhaut oder die Aderhautdicke spielen eine Rolle, hinzu kommen die Aufmerksamkeit, die Beobachtungsgabe und die Grundstimmung des Kunden als psychologische Faktoren. Im Ergebnis ergeben diese Unsicherheiten eine Messungenauigkeit von bis zu einer halben Dioptrie!
Eine subjektive Refraktionsbestimmung als Nonplusultra braucht Fachpersonal. Doch es gibt einen anderen diskutablen Ansatz. Brillen.de macht durch seine Remote-Refraktion von sich reden, Oculus geht einen Schritt weiter mit dem neuen interaktiven Refraktions-Assistenzsystem FARS. Der Meister zur Refraktion sitzt nicht mehr irgendwo in der Ferne, nein, man braucht ihn (zunächst) nicht mehr. FARS steht für „fully assisted refraction system“ und soll Kunden in drei bis fünf Minuten durch eine eigenständig ausgeführte Augenprüfung führen. Schritt für Schritt, ohne dass ein Augenoptiker oder gar eine Augenoptikermeisterin dabei sein muss.
Wieder nur ein Stein, der aus der Mauer herausgenommen wird, die das Erbe des Refraktionsurteils von vor 50 Jahren fest umschließt. Besser gesagt, die das Selbstverständnis unserer Branche umschließt, das mit dem damaligen Urteil einhergeht. Oder ist die Refraktionsbestimmung heute wie gestern nicht doch vielmehr wie Auto fahren? Früher mussten sich die Fahrenden hinter dem Lenkrad um alles kümmern, heute nimmt die Technologie vieles davon ab. Trotzdem halten wir das Lenkrad in den Händen und entscheiden immer noch selbst, wo es lang geht.
50 Jahre nachdem die Augenoptik sich das Recht zur Refraktion vor Gericht erkämpft hat, bleibt die Refraktionsbestimmung – und damit die subjektive Messung als ihr Goldstandard – wesentliche Tätigkeit des Augenoptikermeisters. Das ist auch die Überzeugung von Hans-Jürgen Grein, Professor für Augenoptik / Optometrie an der Technischen Hochschule Lübeck. Für ihn gehört der binokulare Abgleich und – mindestens bei einer Nahglas-Bestimmung – die gute alte Messbrille heute noch dazu, aber er plädiert auch dafür, hochmoderne Technologie bei der Refraktion zu nutzen.
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„Warum nicht das Beste aus beiden Welten nutzen?“
Hans-Jürgen Grein, Professor für Augenoptik / Optometrie an der Technischen Hochschule Lübeck im Bereich Ophthalmo-Technologie, im eyebizz-Interview.
Herr Prof. Grein, ist die subjektive Refraktionsbestimmung mit Kreuzzylinder-Methode und Binokular-Abgleich heute noch der Goldstandard?
Prof. Hans-Jürgen Grein: Wenn wir unter Goldstandard ein Verfahren verstehen, das eine hohe Zuverlässigkeit besitzt und allgemein zur Verfügung steht, dann eindeutig ja. Kreuzzylinder-Methode und Binokular-Abgleich werden in der Breite eingesetzt, führen seit Jahrzehnten zu guten Ergebnissen und sind entsprechend anerkannt. Sie sind nach wie vor Kerninhalte jeder Meister- oder Bachelorausbildung. Dies ist berufsweiter Konsens. Das heißt aber nicht, dass sich nicht auch andere Methoden, neue oder alte, daneben etablieren können, vielleicht sogar in Teilaspekten überlegen sind. Es gibt Situationen, in denen die Kreuzzylinder-Methode zu widersprüchlichen Ergebnissen führt, z.B. bei bestimmten Abbildungsfehlern höherer Ordnung. Da kann sogar die „alte“ Zylinder-Nebel-Methode überlegen sein. Nichtsdestotrotz sind die beiden oben genannten Verfahren der aktuelle Goldstandard und werden das absehbar bleiben.
Es gibt heute hochgerüstete Technologie, die gute Ergebnisse zutage bringt – können diese Geräte mehr leisten als nur die „Vor-Messungen“ durchzuführen?
Die Frage impliziert so ein bisschen den Kampf zweier Systeme, nämlich objektive gegen subjektive Refraktion. Ich denke, dass sich der Stellenwert der objektiven Refraktion, also der „Vor-Messung“, über die Zeit geändert hat. Das Augenoptiker-Credo „glaube keiner objektiven Refraktion“ wird seit Generationen überliefert und war vor Jahrzehnten auch berechtigt. Bei nüchterner Betrachtung stimmt es aber immer weniger. Moderne Autorefraktometer sind bei der Zylinderbestimmung sehr gut, in der Ergebnisstreuung sogar etwas besser als die Kreuzzylinder-Methode. Warum also nicht das Beste aus beiden Welten nutzen?
Wie?
Ein gutes „Vorergebnis“ ist in wenigen Schritten subjektiv abgeglichen. Wenn eine objektive Messmethode schnell zu sehr guten Ergebnissen führt, nimmt das doch viel Mühe für die Personen auf beiden Seiten des Phoropters. Eine Refraktion ist nicht deswegen gut, weil sie lange dauert, sondern dann, wenn das Ergebnis stimmt. Ich sehe die moderne Messtechnik nicht als Konkurrenz zur subjektiven Refraktion, sondern als perfekten Partner.
Ein Partner, der eine zunehmend größere Rolle spielt und schon bald allein klarkommt?
Den subjektiven Abschluss der Refraktion halte ich nach wie vor für unverzichtbar, auch wenn das vielleicht nur die Vorergebnisse bestätigt. Und zwar nicht nur zur Absicherung des Refraktionsergebnisses, sondern auch aus psychologischen Gründen. Der Refraktionist steht damit auch persönlich für das Ergebnis ein.
Wie stehen Sie zum Thema Remote-Refraktion?
Grundsätzlich ist eine Refraktion aus der Ferne technisch möglich. Einen elektronischen Phoropter kann man aus der Ferne genauso gut steuern wie vor Ort. In entlegenen Landstrichen mit sehr weiten Wegen zum nächsten Spezialisten kann das praktikabel und hilfreich sein. Aber es geht dabei auch viel verloren.
Was?
Erfahrene Refraktionierende beobachten ihre Klienten während der Messung genau. Sie nehmen feine und subtile Reaktionen beim Vorschalten von Gläsern wahr. Sie analysieren die Reaktion beim Aufdecken nach der monokularen Refraktion. Sie merken, wenn für manche Probanden der Phoropter nicht geeignet ist und wechseln auf die Messbrille. Für die Nahglas-Bestimmung oder prismatische Korrektionen ist das ohnehin wichtig. Das sind Dinge, die nicht alle aus der Ferne erledigt werden können. Dieser Erfahrungsanteil und auch die direkte menschliche Interaktion bleiben auf der Strecke, wenn die Beteiligten nicht in einem Raum sitzen.
Wie wichtig ist aus Ihrer Sicht das Refraktionsurteil von 1973? Wie hätte sich die Augenoptik entwickelt, wenn damals anders entschieden worden wäre?
Das Urteil war wegweisend für das Selbstverständnis der Augenoptiker. Die Refraktionsbestimmung gehört zur absoluten Kernkompetenz in der Augenoptik. Hierüber definieren sich alle Augenoptikermeisterinnen und -meister nach wie vor. In der Praxis gibt es mittlerweile einen Konsens mit den meisten Augenärzten und Augenärztinnen, dass die Refraktion in der Augenoptik gut aufgehoben ist. Die Kundschaft hat über die Jahre die Refraktionskompetenz in der Augenoptik erkannt. Dadurch werden Augenoptikerinnen und Augenoptiker auch über die Refraktion hinaus als kompetente Sehberater wahrgenommen.
Was nicht zuletzt durch die Technologie befeuert einen großen Wert in der Zukunft haben kann, Stichwort Augengesundheitsversorgung.
Die wachsende Beratungskompetenz, nicht nur zu Sehhilfen, sondern in allen Fragen rund ums Sehen, wird die Zukunft der Augenoptik mitbestimmen. Insofern wurde vor 50 Jahren die Grundlage für die kommenden 50 Jahre gelegt. Aber es gibt noch einen anderen Aspekt. 1973 ging es in erster Linie um Berufsrechte. Aus heutiger Sicht wäre ohne dieses Urteil die Versorgung der Bevölkerung mit Refraktionsbestimmungen und daraus folgend mit passenden Sehhilfen rein quantitativ nicht gewährleistet. Es war also, ohne dass es Gegenstand des Prozesses war, auch ein Urteil für die Versorgungssicherheit im Bereich gutes Sehen.
Welche technologischen Fortschritte dürfen wir in der Zukunft bezüglich der Refraktionsbestimmung erwarten? Was würden Sie sich wünschen?
Die Technik wird uns immer mehr helfen, schnell zu guten Refraktionsergebnissen zu kommen. Sie wird einen subjektiven Abgleich, in welcher Form auch immer, nicht ersetzen. Sehr präzise objektive Messungen und neue subjektive Strategien können Zeit schenken für die Sehberatung der Kunden. Die Refraktionsbestimmung ist nur der erste Schritt zu einer guten Sehhilfe. Der Beratungsbedarf wird weiter zunehmen. Nicht nur wegen immer komplexerer Sehhilfen, sondern auch, weil Gesundheitsvorsorge und -beratung immer wichtiger werden. Trotz aller Automatisierung in der Refraktionstechnik bin ich überzeugt, dass die überwiegende Mehrheit der Kunden sich einen qualifizierten Menschen als fachliche Instanz und Berater wünscht, mit dem sie über ihre Sehprobleme persönlich sprechen können.