Alle Jahre wieder bietet der Branchenreport Augenoptik von ZVA und Spectaris eine Fundgrube an Fakten und Materialien zur Lage der Augenoptiker*innen. Der Report 2020/21 ist besonders aufschlussreich, weil er den Status quo der Branche nach eineinhalb Jahren Corona-Krise aufzeigt und zukünftige Risiken und Chancen benennt. Wir haben die interessantesten Trends herausgepickt.
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Noch immer breit aufgestellt: Auf 7.300 Einwohner bzw. 3.600 Fehlsichtige kommt in Deutschland im Schnitt ein Augenoptik-Betrieb. Das ist nicht wenig. Die Dichte wird nur von der Zahl an Apotheken übertroffen, so der Report. Im Jahr 2020 zählten die Autoren 11.370 augenoptische Geschäfte mit insgesamt 48.100 Beschäftigten. 330 Betriebe mussten per Saldo in den letzten drei Jahren schließen. Auch die Zahl der Apotheken schrumpft: Seit 2017 schließen jährlich gut 300 Geschäfte, gegenwärtig sind es noch 18.753. Bedroht werden sie vor allem von der Konkurrenz im Internet, immer mehr ausländische Online-Apotheken liefern hierzulande Patienten Medikamente vor die Tür.
Den Online-Handel haben Augenoptiker*innen in Deutschland noch nicht zu fürchten. Oder doch? Lediglich 250.000 Korrektionsbrillen wurden 2020 rein online verkauft, eine Nische. Doch wird es so bleiben? Die Customer Journey beim Brillenkauf emanzipiert sich immer mehr vom ehemals rein stationären Kauferlebnis in Richtung einer komplexen, vielschichtigen Multichannel-Erlebniskette. Nicht nur der Branchenführer arbeitet emsig daran, Sehtest, Refraktion und optometrische Anpassung auch online abwickeln zu können. Wandert das Herzstück des traditionellen Augenoptikerhandwerks eines Tages vollständig ins Virtuelle?
So ist es schöngeredet, wenn im Branchenbericht zu lesen ist: „Lediglich bei 1,7 Prozent der (Brillen)Käufe wurde der komplette Kaufprozess online abgewickelt.“ Das mag sachlich stimmen, doch es suggeriert eine Sicherheit, in die sich zu wiegen trügerisch ist. Eher müsste es heißen: Nur Augenoptiker*innen, die ihren Kunden ermöglichen, einige Schritte der Customer Journey auch online „gehen“ zu können, werden sich zukünftig auf dem Markt behaupten können. Mittlerweile gibt es viele Tools und Optionen, Kunden online abzuholen, auch virtuell an sich zu binden: von der Online-Terminvereinbarung über Sehtest-Apps bis hin zur Fassungsauswahl per Virtual Try-on.
Was die Branche schleichend umpflügt, ist nach wie vor die zunehmende Filialisierung des Marktes. Die umsatzstärksten Filialisten Fielmann und Apollo Optik sind auch im Corona-Jahr 2020 gewachsen, Eyes and more und SuperVista (brillen.de) gelangen sogar große Sprünge – Erstere von 131 auf 182, Letztere von 33 auf 91 Filialen. Die Chancen ergeben sich, weil 67 Prozent der Inhaber von Augenoptikbetrieben älter als 50 sind. Wer jahrzehntelang erfolgreich gewirtschaftet hat, kann sich derzeit vor Übernahmeangebote von Großvertriebsformen bzw. Investoren kaum retten. Da kann genau überlegt werden, in welche Hände das Lebenswerk übergeben wird, damit es auch überdauert. Teils bleiben die neuen Eigentumsverhältnisse im Verborgenen, weil das aufgekaufte Geschäft unter alter Flagge fortgesetzt wird. Ob der Kunde solch mangelnde Transparenz goutiert, ist die Frage.
In den meisten anderen europäischen Ländern ist die Marktmacht der Filialisten deutlich größer als bei uns. Das kann ein Hinweis darauf sein, wohin die Reise gehen könnte. Im Interesse der Endverbraucher sollte die derzeitig in Deutschland noch bestehende attraktive Diversität und Angebotsbreite auf dem augenoptischen Markt nicht weiter geschmälert werden.
Wo bleibt das Positive? Der Anteil der Über-66-Jährigen wird von aktuell 19,5 Prozent bis 2040 auf 26 Prozent der Bevölkerung ansteigen. Der Nachfrage nach Gleitsichtbrillen und vergleichbaren (Multifokal-)Kontaktlinsen wird mitwachsen, ebenso die besonderen Wünsche einer anspruchsvollen, zahlkräftigen Klientel. Doch nicht alle Silver Ager werden tief in die Kasse greifen können. Die gesetzlichen Rentenbeiträge pro Kopf werden mittelfristig sinken.
Das neue Homeoffice-Zeitalter hat manchem Unwissenden seine Sehschwäche erst bewusst gemacht. Die für das Sehen am Bildschirm entwickelten Brillenglastypen erzielten in den vergangenen Monaten Zuwachsraten im zweistelligen Bereich. Doch von den 17 Mio. Fehlsichtigen, die hierzulande ihren Job am Bildschirm erledigen, tragen nur 13 Prozent eine Bildschirmarbeitsplatzbrille. Auch das ein großes Potenzial.
Und noch ein Trend: Immer mehr 20- bis 29-Jährige tragen Brille. 2008 waren es 26, jetzt sind es 36 Prozent. Zunehmende Bildschirm- und Smartphone-Nutzung sind maßgebliche Gründe.
Fakt ist auch, dass immer mehr junge Menschen stark kurzsichtig sind. Doch die Ursache dafür liegt weniger am Hang zu exzessiven Online-Aktivitäten, sondern an der geringen Zeit, die die Betroffenen draußen an der frischen Luft verbringen. Für Augenoptiker*innen jedenfalls jede Menge neue Kunden.
Doch um diese Zielgruppe zu gewinnen – und da schließt sich der Kreis – sollten Augenoptiker*innen bei ihrer Geschäftsstrategie einen Omnichannel-Ansatz im Blick haben. Die jüngere Generation ist mit dem Onlinehandel groß geworden, benötigt vielleicht zunächst nur Lösungen im Einstärkenbereich, wird aber früher oder später auf Gleitsichtgläser umsteigen. Welche Augenoptiker*innen holen sie hier am besten ab? Und mit welchem Touchpoint der „Customer Journey“? Warten wir’s ab.