Michael Schirner, der „Beuys der deutschen Reklame“, sprach es bereits Anfang der 1980er öffentlich aus: „Werbung ist Kunst“. Sie hat eben nicht ausschließlich das Ziel zu verkaufen, sondern verfügt über eigene ästhetische und intellektuelle Qualitäten. Das kann soweit gehen, dass dafür Motive aus der Kunstgeschichte zum Einsatz kommen – Leonardo da Vincis „Mona Lisa“ zum Beispiel oder Botticellis „Geburt der Venus“. Welche kreativen Möglichkeiten das auch für Brillen-Werbung bietet, zeigt die aktuelle Herbst-Winter-Kampagne des spanischen Labels Etnia.
Die „Geburt der Venus“, 1480 gemalt und eine Ikone der italienischen Renaissance, ist eine der bekanntesten und beliebtesten Kunstwerke überhaupt und wurde deshalb schon vielfach weltweit für Werbekampagnen eingesetzt. Die Venus warb für Rasierapparate, Mineralwasser, Kreditkarten und sogar Hausbriefkästen.
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Auch der Wiener Maler Gustav Klimt (1862–1918), zu Lebzeiten noch umstritten und kaum konsensfähig, hat es mit seinen Werken mittlerweile weit in der Werbung gebracht. Heute findet man seine Motive auf Kissenbezügen, Smartphone-Taschen, Krawatten, Kaffeetassen und auch Brillenetuis. Dort kann man dann auch noch ein flauschiges Reinigungstuch mit Klimts Gemälde „Der Kuss“ als Aufdruck herausziehen.
Hommage und trendige Anverwandlung
So simpel funktioniert der neue Auftritt des spanischen Brillenlabels Etnia glücklicherweise nicht. Man hat sich viel Mühe gegeben, die auch international bekannte Marke, die Klimt mittlerweile ist, nicht einfach so auszubeuten, sondern die Werke des Wieners neu inszeniert und damit eine raffinierte Zwischenform geschaffen zwischen respektvoller Hommage und ziemlich trendiger Anverwandlung. Das ganze Spektakel – man kann es wirklich so nennen – ist auch die Fortsetzung der schon bekannten Image-Kampagne des Labels: #BeAnartist. Damit hat die Marke den nicht eben geringen Anspruch gesetzt, mit einem konventionellen Kunstverständnis zu brechen.
Das ist doch irgendwie ein Klimt, den wir kennen, und wir schauen zweimal hin, um die Unterschiede zu erforschen
Mit „Der Kuss“, „Beethovenfries“, „Judith I“ und „Bildnis der Adele Bloch-Bauer I“ werden gleich vier der bekanntesten Gemälde Klimts neu in Szene gesetzt. Auf den sehr genau arrangierten Fotografien sind die sieben dort vorgestellten Brillenneuheiten aus der Etnia-Herbst/Winter-Kollektion mit insgesamt 75 verschiedenen Modellen zwar die Hauptdarsteller, doch sie drängen sich innerhalb der Inszenierungen nicht auf. Das ist subtil und auch sympathisch.
Genderspiel mit „Judith I“
Der verblüffende und vorherrschende Gesamteindruck bei den Motiven bleibt: Das ist doch irgendwie ein Klimt, den wir kennen, und wir schauen zweimal, dreimal hin, um die Unterschiede zu erforschen und uns daran auch zu erfreuen. Die Figurenkonstellationen, die Haltung der Körper, das Zusammenspiel von nackter Haut und Textilien und der für Klimt so typische goldene Hintergrund werden zwar übernommen, doch ins 21. Jahrhundert übersetzt.
Aus der sinnlichen Femme fatale, die Klimt mit „Judith I“, geschaffen hat, wurde ein androgyner junger Mann mit nackter Brust, poppiger Kraushaarfrisur und Mopedhelm in der Hand. Beim neuen „Beethovenfries“ wurde einer der drei Frauen des Originals ebenfalls durch einen Mann ersetzt. Die von ihrem Liebhaber zärtlich umschlungene Träumerin von „Der Kuss“ hat in der neuen Version ihre Augen geöffnet und blickt selbstbewusst durch ihre Brille auf den Betrachter.
Mikrochips, Schaltkreise, Kabel
Was bei Klimt immer den goldfarbenen Hintergrund abgibt – Mosaiksteine, Ornamente, Wandpatina – ist auch bei den Etnia-Bildern goldfarben, doch hier sieht man etwas ganz anderes: technologisch-futurologische Bausteine wie Mikrochips, Schaltkreise, Kabel. Auch der ungemein breite Halsreif, den Adele Bloch-Bauer hier trägt, sieht aus, als bestünde er aus gebogenen Teilen einer Festspeicherplatte.
Wenn ein Unternehmen Kunst für Werbung verwendet, sollen die Produkte dadurch aufgewertet und veredelt werden. Das kann nur gelingen, wenn das Original nicht verunglimpft, sondern eben respektiert wird. Wie es hier auch der Fall ist. Mit den hippen Brillen von Etnia lässt sich der Bogen zu Klimt, dem Maler-Avantgardisten schlagen, dessen Werk mittlerweile fast unisono geschätzt wird.
Das Leitmotiv der Etnia-Kampagne heißt auch nicht umsonst „The Art of Details“, um den Detailreichtum hervorzuheben, mit dem Biel Capllonch, der bereits die vorangegangenen #BeAnartist-Kampagnen fotografiert hat, alles umgesetzt hat (siehe eyebizz 5.2017). Tatsächlich ist auf den Bildern ungemein viel zu entdecken, zumal wenn man die Originale kennt. Und kennt man sie nicht, kann das ja noch kommen …
Werbung, die Kunst und Brillen näher bringt
Der Kunstpädagoge Thomas Bickelhaupt stellte jedenfalls die These auf, dass Werbung heute auch die Funktion übernommen hat, ästhetische Kultur weiterzugeben und zu vermitteln. Gemeint ist: Wenn die Menschen schon nicht mehr zu den Kunstwerken pilgern – zwei Drittel der Deutschen gehen selten oder gar nicht ins Museum – kommen die Bilder eben über die Werbung zu ihnen.
Und das Ende vom Lied ist in diesem Fall vielleicht ein Schönes: Die Menschen, welche die Bilder der Etnia-Kampagne sehen, wollen endlich den Original-Klimt anschauen oder sind so becirct, dass sie die Brille kaufen, für die hier auf so intelligente Weise geworben wird.