Viele große Museen haben in den vergangenen zwei Jahren neue Angebote geschaffen: virtuelle Rundgänge online, Ausstellungseröffnungen live gestreamt, soziale Medien als Plattform für Kunst- und Kulturangebote. Besonders trendy: Virtual- und Augmented-Reality-Angebote, die das Eintauchen in fremde, längst vergangene Welten ermöglichen. Immer mit dabei: die VR-Brille.
Untrennbar verbunden mit der intensiven Erfahrung virtueller Realität ist die VR-Brille, die mehrdimensionale Inhalte transportiert. Die Variante für den passiven Konsum von 3D-Filmen ab den 1950er-Jahren waren einfache Brillen mit rotem und grünem Filter vor je einem Auge.
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Brille oder Headset für die Nutzung von VR-Angeboten bestehen dagegen entweder aus einer Halterung, in die ein Smartphone eingefügt wird, wie das simple „Google Cardboard“ aus Pappe, oder haben die gesamte Technik als „Head Mounted Display“ integriert. Als sogenannte Stand-alone-VR-Headsets funktionieren sie autark, ohne Anbindung an einen Rechner. In beiden Fällen folgt der virtuelle Blick der Nutzer der eigenen Bewegung.
Cardboard-Brille aus Pizzakarton
Das „Google Cardboard“, vorgestellt erstmals 2014 und seither millionenfach in Umlauf gebracht, besteht aus einem gefalteten Karton, zwei Sammellinsen und einem Druckschalter. Den Bausatz stellt Google als Open Source-Produkt jedem zur Verfügung – eine Ausführung aus Pizzakarton ist möglich. Nach dem Öffnen einer App für die stereoskopische Ansicht setzt die VR-Brille zwei Bilder zu einem 3B-Bild zusammen.
Im Berliner Naturkundemuseum sind Cardboard-Brillen seit rund fünf Jahren en vogue. 2016 machte das Museum seine Zusammenarbeit mit Google Arts & Culture publik sowie das sensationelle Angebot, „beliebte Exponate durch Virtual Reality lebensecht zu erfahren“. Die Webanwendung von Google ermöglicht es, Online-Ausstellungen von Museen am heimischen PC oder mobil am Smartphone zu besuchen. Gestartet 2011 mit 17 Museen, präsentierten sich auf der Plattform inzwischen über 2.400 Museen, Galerien, Archive, Bibliotheken, Orchester, Theater und sonstige kulturellen Einrichtungen aus über 80 Ländern.
Eintauchen in Unterwasserwelten, Abheben ins Weltall, das Gewusel in der Erde entdecken und staunen angesichts eines Vulkanausbruchs oder eines Dinosauriers – auch Naturhistorische Museen in Braunschweig und Wien, das Ozeanium in Stralsund und die Senckenberg Museen beteiligten sich an dem Projekt. Und während im 19. Jahrhundert Panoramen zu den Highlights vieler Museen gehörten, 1787 vom Iren Robert Barker als „la nature à coup d’oeil“ („Natur auf einen Blick“) für ein „sehsüchtiges“ Publikum erfunden, begeistern heute Objekte und Szenerien in hochauflösenden 3D-Gigapixel-Aufnahmen die Menschen. Für sie bezeugen diese fiktiven, doch hyperpräzisen Welten die – leider schwindende – Vielfalt der Arten und die Wunder der Natur.
Unterwegs mit Saurier Oskar
Vor rund 150 Millionen Jahren lebte Brachiosaurus brancai (Giraffatitan), Publikumsmagnet und von diesem offiziell „Oskar“ getauft. Der pflanzenfressende Saurier richtet sein Skelett im Berliner Museum über 13 Meter hoch auf. Im 360 Grad-Film, besonders eindrucksvoll mit VR-Brille zu erleben, verlässt der Gigant als fleischgewordene Wirklichkeit sein Podest und wirft einen Blick in Richtung Museumstechnik im 21. Jahrhundert.
Auch Senckenberg in Frankfurt setzt auf die Faszination von Kindern und Erwachsenen für Dinos in Kombination mit VR-Technologie. „Der Saal der Dinosaurier wird vor Ihren Augen im tropischen Meer versinken, während die imposanten Exponate aus dem Raum der Fischsaurier vor Ihren Augen zum Leben erwachen.“ Dies, so eine Ankündigung für die Presse, sei aber nur „ein Vorgeschmack auf das, was Besucher im Neuen Museum erwarte. „Hätten Sie Lust auf einen Spaziergang durch den Weltraum oder auf eine Reise in die Zukunft?“
Möglich sind derart fantastische Touren auch im Gasometer in Oberhausen, wo sich ebenfalls Tiere und Pflanzen via Virtual-Reality-Brille scheinbar lebensecht zeigen. In der Ausstellung „Das zerbrechliche Paradies“, zur „schützenswerten Schönheit unseres Planeten“, ist die Virtual-Reality-Installation „Inside Tumucumaque“ gespickt mit Hightech und bietet einen einzigartigen Blick in das Regenwaldschutzgebiet Tumucumaque. Wer mag, kann hier dank VR sogar mit einem Kaiman um die Wette schwimmen.
Weltraum, Operationstisch, Einrichtungshaus – alles möglich
Der Effekt, der sich einstellt beim Gebrauch der VR-Technologie, wird Immersion genannt, für „Eintauchen“ und „Eintreten“ in eine illusorische Welt, die als real empfunden wird. Diese Illusion wird gesteigert durch die Möglichkeit, in der (Schein)-Welt selbst aktiv und mitten im Geschehen zu sein – für Nutzer von Computerspielen ein Qualitätsmerkmal. Je lebensechter, desto besser. Steuergeräte, sogenannte Controller in den Händen der Nutzerinnen oder Nutzer ermöglichen die vermeintlich natürliche Interaktion mit der virtuellen Welt.
„Das ist weit mehr als 3D, es ist die perfekte Illusion. Weltraum, Berggipfel, Operationstisch, Einrichtungshaus oder Meeresgrund: Alle möglichen Szenarien werden in der räumlichen und lebensnahen Rundumsicht sinnlich erlebbar“, beschreibt die Telekom die Wirkung der Technologie. „Mixed Reality“ ist der Oberbegriff für VR und AR und „die neue Art der Hyperrealität, in der beide Welten kombiniert werden“.
Und dies nicht nur im Bereich der Bildung. Mediziner nutzen VR, um bei der Diagnose einer Krankheit zusätzliche Informationen zu bekommen; angehende Chirurgen üben im „Virtual Reality Operating Room“. Zudem hat die Technologie sicher eine Zukunft in der Porno-Industrie, beim Militär und im Tourismusbereich. Warum nicht Ausflüge und virtuelle Treffen an Orten ermöglichen, die Menschen aus eigener Kraft leibhaftig nicht (mehr) erreichen können?
Unstillbare Sehnsucht nach illusionären Welten
In der Museumslandschaft machen nicht nur Naturkundemuseen mit VR-Angeboten von sich reden. Historische Museen sowie Technik- und Kunstmuseen setzen ebenfalls auf die hautnah erfahrbare Vermittlung ihrer Inhalte. Im Freilichtmuseum Bad Windsheim entführt ein 360-Grad-Film Besucher und Besucherinnen ins Jahr 1465, in dem der „Lichtensterner Altar“ entstand: „Einfach eine VR-Brille aufziehen und ab geht´s in Mittelalter!“.
Das Deutsche Museum bewirbt seine ständigen Angebote im VRlab, wo Gäste sich mit Hilfe von Virtual-Reality-Brillen und Controllern ins All beamen oder mit Objekten interagieren können. Wer Zeit hat, kann zudem den Dampfkreislauf einer Dampfmaschine und Otto Lilienthal beim Flug mit seinem Gleiter verfolgen.
Das Zeppelinmuseum in Friedrichshafen reflektierte in der Ausstellung „Schöne neue Welten. Virtuelle Realitäten in der zeitgenössischen Kunst“ bereits 2017 die Auswirkungen der „Bildrevolution“ durch neue Technologien, die „unsere Zukunft prägen werden“.
Kuratorin Ina Neddermeyer kombinierte Werke zeitgenössischer Kunst mit stereoskopischen Aufnahmen, welche die Geschichte des Zeppelins von 1900 bis in die 1930er Jahre begleiteten. Denn die Sehnsucht nach illusionären Welten ist nicht neu, und das Interesse der Menschen an immersiven Medien flackerte lange vor den ersten Fernsehbildern auf.
Boschs „Garten der Lüste“ ermuntert zum Eintreten
Dass für VR-Angebote spezielle Software und zum Erzeugen komplexer dreidimensionaler Welten hohe Datenmengen und Rechnerleistung nötig sind, und dass zudem externe Experten finanziert werden müssen, macht die Eigenproduktion für kleinere Museen fast unerschwinglich. Allerdings stehen die Chancen, für die zukunftsweisende Technologie Partner zu finden oder eine Förderung zu bekommen, grundsätzlich nicht schlecht. So konnte Corinna Engel vom Museum für Kommunikation in Frankfurt für die Präsentation der Virtual Reality-Experience „DelightfulGarden“ zwei Stiftungen und den Kulturfonds Rhein-Main gewinnen.
Geschaffen hatte das aufwendige „Experiment“ um einen Ausschnitt des Gemäldes „Garten der Lüste“ von Hieronymus Bosch das interdisziplinäre Team der Firma TimeLeapVR. Producer und Projektmanager, Entwickler, Environment und Character Artists, Animatoren, Texter, Sounddesigner, Motion und Face Capture Actors, Voice Over Artists – und keinesfalls nur Männer – trugen ihr Können zu dem Projekt bei, das Jung und Alt gleichermaßen faszinierte. Senioren zeigten sich im Museum vor der Kulisse des Bosch-Gemäldes tief davon beeindruckt, dass sie mit den surrealen mittelalterlichen Figuren aus dem Bild sogar interagieren konnten.
Und das Museumspersonal, das den VR-Neulingen helfend beim Einstellen des Headsets und Gebrauch der Controller zur Seite stand, war begeistert über die Neugier der Menschen, die teils weite Anreisen auf sich genommen hatten für diesen besonderen Kunstgenuss. Kommentare wie „Man macht sich doch zum Affen, mit diesem Gestell auf dem Kopf und den Dingern in der Hand im Nichts rumzustochern!“, waren die Ausnahme.
Besuch beim „Mönch am Meer“
Wem die Aura eines Kunstwerks alles ist, wer keinen Kontext braucht und schon gar keine digitale Erweiterung, hat weiterhin die Möglichkeit, in der Stille hoher Museumssäle der Wirkung authentischer Werke nachzuspüren. Vielleicht der des Gemäldes von Caspar David Friedrich, „Der Mönch am Meer“, entstanden zwischen 1808 und 1810. Das vor wenigen Jahren restaurierte Bild befindet sich in der Alten Nationalgalerie in Berlin und gilt, wie das daneben präsentierte Werk „Abtei im Eichwald“, weltweit als Ikone romantischer Landschaftsmalerei. Ein Mensch, winzig am Strand vor Meer und Himmel, sonst nichts.
Viel zitiert dazu Heinrich von Kleists Text über „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft“, die gleichsam eine Seelenlandschaft zeigt, mit den Worten: „Das Bild liegt, mit seinen zwei oder drei geheimnisvollen Gegenständen, wie die Apokalypse da, als ob es Joungs Nachtgedanken hätte, und da es, in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit, nichts, als den Rahm, zum Vordergrund hat, so ist es, wenn man es betrachtet, als ob Einem die Augenlider weggeschnitten wären. Gleichwohl hat der Mahler Zweifels ohne eine ganz neue Bahn im Felde seiner Kunst gebrochen …“
Auf dem Meer schaukeln Schiffe
Braucht es da noch VR? Die Nationalgalerie meinte Ja, und hat 2019 in Kooperation mit der Gebrüder Beetz Filmproduktion und ARTE eine „spielerisch-experimentelle“ virtuelle Erweiterung realisiert. Sie erlaubt, was bislang verwehrt war: das Bild zu betreten, den Blick wie der Mönch auf das Meer gerichtet. Allein mit den Elementen. Doch was ist das? Auf dem Meer schaukeln Schiffe! Restaurierungstechniken haben offenbart, was unter Farbe gut verborgen war, und wir Laien wissen es jetzt auch. Virtual Reality sei Dank!
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Margret Baumann arbeitet als Autorin, Ausstellungsmacherin und leitende Redakteurin von DAS ARCHIV Magazin für Kommunikationsgeschichte. Sie lebt in Offenbach und schreibt am liebsten über Technikgeschichte, Alltagskultur und Kunst.