Nie mehr eine Schraube locker: Brillen-Scharnier neu gedacht
von Patricia Perlitschke,
Lange Zeit hatte fast jede Brillenfassung bei den Bügeln eine Standard-Schraub-Variante. Inzwischen gibt es mehr und mehr Scharnier-Lösungen, die ohne Schrauben auskommen. Fortschritte bei Materialien und Herstellungs-Verfahren sowie die unermüdliche Kreativität der Brillen-Designer machen’s möglich.
Wie oft mussten Augenoptiker*innen früher verlorengegangene Schräubchen am Bügelscharnier ihrer Kunden ersetzen. Mit Körnung des Schraubenendes wurde es besser, aber auch das Nachjustieren der Gangregulierung gehört zum festen Repertoire in der Werkstatt. Ob tägliche Beanspruchung durch Auf- und Einklappen der Bügel oder einseitige Ziehkräfte beim Absetzen der Brille mit nur einer Hand – das Scharnier muss einiges aushalten und macht neben den Bügeln oft als erstes schlapp.
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Kein Wunder, dass Brillendesigner schon früh damit anfingen, an einer Alternative zu tüfteln (siehe auch: Highlights aus der Scharnier-History). Dabei beeinflusst ein schraubenloses Scharnier auch den Look der Kollektion: Das Bindeglied zwischen Mittelteil und Bügel kann fast völlig verschwinden oder bewusst in Szene gesetzt werden. Für Design- und Technik-Fans unter den Brillenträgern sind diese Möglichkeiten besonders interessant, auch gibt es nicht selten Innovations- und Designpreise für eine besondere Scharnier-Lösungen.
Technik und Design auf den Punkt
Die Verbindung von Technik und Design beherrscht Markus T seit fast 25 Jahren meisterlich. Für die Modellreihen aus Gütersloh wurden kontinuierlich diverse Scharnier-Lösungen entwickelt, Motto: Schrauben sind tabu!
Wie bei der Modellreihe „Dot“, die seit 2018 die Kunst der Steckverbindung in Szene setzt. Das Scharnier im Mittelpunkt der Fassung gibt ihr auch den Namen: Das silberfarbene, kreisrunde Scharnier-Plättchen bringt die Symbiose aus Technik und Design auf den Punkt.
Designer Markus Temming: „Die Grundidee war, neben unserer Kollektion ,Titan’ eine weitere, noch filigranere Kollektion mit unserem Lieblingswerkstoff Titan auf den Markt zu bringen, die unsere technische Expertise direkt erkennen lässt.“
Die Gütersloher entwickelten die Scharnier-Technik einer anderen Kollektion weiter, mit der Herausforderung, Bügel und Mittelteil – beide aus Titan – miteinander zu verbinden und dabei Flexibilität, Gangregulierung, spielfreie Passung und Langlebigkeit auf kleinstem Raum zu vereinen.
Als Gleitlagerwerkstoff für das kaum sichtbare Scharnier wurde ein spezieller Kunststoff eingesetzt, der eine hohe mechanische Festigkeit aufweist und gut gleitet. Die Geometrien der Scharnier-Hülse sind so gemacht, dass die Hülse fest am Bügel sitzt, jedoch eine in der Drehung flexible Aufnahme für das Mittelteil bereitstellt.
Die Technik hat sich inzwischen in unterschiedlichen Ausformungen bewährt. In Produkttests sowie Erfahrungsberichten von Augenoptiker*innen und Endkunden bekommt Markus T regelmäßig positives Feedback. „Wir haben stets im Hinterkopf, langlebige und wartungsarme Scharniere zu entwickeln, die auch mit den Herausforderungen des Alltags – wie unterschiedliche Temperaturen, Feuchtigkeit, Schweiß, Umwelt- und Hautpartikeln – klarkommen müssen.“
Less is more
Die Brillenschmiede von Silhouette setzt seit jeher auf federleichte Fassungen – aber: „Auf den dünnrandigen Fassungsteilen konnten die üblichen technischen Scharniere nicht mehr auf der Bügel-Innenseite versteckt werden. Daher wurde die Idee geboren, das Scharnier als Designelement zu nutzen“, so Roland Keplinger, Design Director.
Für die neue Kollektion „Lite Spirit. Accent Rings“ konzipierten die Linzer ein wartungsfreies zylindrisches Schnapp-Scharnier.
Die Funktionstechnologie entspricht der Kollektion TNG (Titan Next Generation) von 1999. Dem Bügeldesign angepasst und funktional adaptiert wurde es 2019/20 für die Linie Lite Duet.
Die jetzt eingesetzte Version ist sehr minimalistisch. „Zunächst als Kugel ausgeführt, entschieden wir uns im Laufe der Weiterentwicklung des Scharniers für eine Zylinderform. So wirkt es stärker architektonisch und weniger verspielt“, erklärt Keplinger.
Metallbügel und -backe aus hoch federelastischen Titanlegierungen werden mit einem Drehkörper aus speziellen High-Performance-Kunststoffen zusammengesetzt, die je nach Oberflächengestaltung unterschiedlich sind, um die Gleitgängigkeit des Scharniers zu gewährleisten. Eine Herausforderung sind die Biegeteile aus Titanlegierung.
Edelstahl-Feder
Um 3D-gedruckte Fronten mit einem feinen Edelstahlbügel zu verbinden, suchte Götti lang nach einer passenden Scharnier-Lösung, Anfang 2020 dann das Ergebnis in der Kollektion „Götti Dimension Lite“.
„Passend zum innovativen Konzept von 3D-Druck war es für uns ein Muss, eine Verbindung zu entwickeln, die ohne Schrauben funktioniert und in unserer Manufaktur in der Schweiz herstellbar ist“, erzählt Designer Sven Götti.
Weil Edelstahl die optimalen Eigenschaften für die erwünschte Federwirkung besitzt, wählte man dieses Metall auch für das Scharnier. „Erst in Verbindung mit dem Bügel und dem Mittelteil wird das Scharnier komplett und funktionstüchtig.“
In Wädenswil bleibt die Entwicklung aber nicht stehen. Das Team der internen Entwicklungsabteilung arbeitet immer parallel an den unterschiedlichsten Innovationen, auch am schraubenlosen Scharnier.
„Das Grundprinzip bleibt. Im Herbst präsentieren wir eine Abwandlung davon, wobei das gleiche Scharnier-Konzept in eine komplett 3D-gedruckte Brille integriert ist“, so Sven Götti.
Drei-Komponenten-System
Mykita setzt seit 2003 mit Scharnieren Akzente. Die Manufaktur in Berlin hat unter Gründer Moritz Krueger seit kurzem ihre Acetat-Produktion vollständig auf das nachhaltige Acetate Renew des Materialspezialisten Eastman umgestellt. Für das Endura-Scharnier-Konzept der Acetat-Kollektion, das inhouse vom Design & Development Team entwickelt wurde, nutzt man Edelstahl.
Ein spezielles Drei-Komponenten-System sorgt für eine formstabile Fassung, welche die anatomisch angepasste Brillenform beibehält – bei einem Minimum an Wartung oder Nachjustierung: „Die Kinematik des Gelenks, das definierte Auf- und Zuklappen des Bügels, ist essenziell für das Qualitätsempfinden des Trägers. Diese Perfektion wird durch einen federgelagerten Kolben erreicht, der im Bügelinneren läuft. Der Kolben drückt auf ein unrundes Gegenstück und wird so bei jeder Öffnung des Bügels in die Feder gedrückt.“ Alle Elemente sind im Backen- bzw. Bügel-Inneren angeordnet, um ein aufgeräumtes Design zu erreichen.
Klammer aus Stahl
Die Idee für das Scharnier-Konzept von Lool entstand 2015 bei einem Treffen mit einem Augenoptiker. 2021 kaufte Etnia Barcelona die katalanische Marke und integrierte sie in ihre erweiterte Strategie als Etnia Eyewear Culture Group mit eigenen, unabhängigen Marken. Der Neuzugang verbindet extreme Leichtigkeit mit technologischer Ausrichtung und einem hohen Potenzial an Nachhaltigkeit, was gut zur Firmenphilosophie unter Gründer David Pellicer passt.
Die Variante mittels Klammer-Konstruktion löste das Hauptproblem anderer Kollektionen, bei denen das Material oder die Lacke bei der Montage und Demontage der Bügel litten. Weitere Vorteile: ein Öffnungs- und Schließmechanismus mit hoher Verschleißfestigkeit und optimale Spannung und Stabilität in den Bügelstreben. Verwendet wird 11R51-Stahl von Sandvik, ein rostfreies Metall, das biegsam, korrosionsbeständig und kratzfest ist.
Magnetische Anziehung
Die Gründer von Baars aus Oyonnax, Guillaume Thuau und Marc-Antoine Rubaud, verbinden Hauptstadtflair und Natur im Design ihrer schlichten zeitlosen Kreationen und vertrauen für die Bügel-Anbindung auf magnetische Power. Die Schnappverbindungen werden exklusiv für Baars mit Neodym-Magneten, dem stärksten handelsüblichen Dauermagneten des US-Herstellers Quadrant, hergestellt.
„Ohne Schrauben oder mechanische Teile ist die Gefahr von Verschleiß und Bruch geringer, was zu einer längeren Lebensdauer der Brille beiträgt“, beschreiben die zwei Macher ihre Motivation. Inspiriert wurden sie von TRIZ, einer Theorie des erfinderischen Problemlösens, und stellten fest, dass die natürliche Entwicklung eines Systems darin besteht, vom mechanischen zum magnetischen System überzugehen. Guillaume Thuau: „Schauen Sie sich nur die Zugtransportsysteme an, die mit Rädern begannen, doch die schnellsten Züge fahren heute mit einer reibungsfreien Magnetschwebe-Technologie.“
Ein Ring ums Holz
Eine besondere Material-Herausforderung für Brillen ist Holz – erst recht beim schraubenlosen Scharnier. Rolf Spectacles aus Tirol gewann damit 2009 in Paris ein Silmo d’Or in der Kategorie „Technik und Innovation“. 2017 folgte das Flexlock-Scharnier, erneut mit einem Silmo d’Or ausgezeichnet.
Die Basis des flexiblen, metallfreien Gelenks bilden hochverdichtetes Kunstharzpressholz und ein Naturkautschukring, der um die Haken der Gelenkteile an Front und Bügel gespannt wird. Das ermöglicht ein Brillen-Scharnier, das nahezu in alle Richtungen wie ein Schultergelenk verdreht werden kann. Selbstständiges Öffnen und Schließen des Bügels wird verhindert, ebenso das Aufliegen der Bügelenden am Brillenglas.
„Das Flexlock-Gelenk erwies sich als ideale Ergänzung und Weiterentwicklung für die 2020 vorgestellte Bohnenbrillen-Kollektion. Es lässt sich mittels 3D-Technologie einfach mitdrucken, sodass wir unsere neuen Brillen in einem Zug fertigen und die Zahl der Zulieferer geringhalten können“, freut sich Roland Wolf, Gründer des Labels.
Inspirierende Büroklammer
We are Annu mit Sitz in Nürnberg, ein Designer-Kollektiv um Iddo Zimmermann und Michael Menig, arbeitet mit 3D-Druck. 2018 kam ihre betont schlichte Scharnier-Lösung auf den Markt. „Wichtigster Einfluss auf das Design war die Büroklammer, deren Einfachheit und Schönheit uns inspirierte. Wir dachten darüber nach, wie wir ihre Eigenschaften in ein funktionelles Scharnier-Design für Brillen übertragen könnten“, beschreibt Zimmermann die Idee.
Besonders herausfordernd war die technische Raffinesse in der inneren Architektur des 3D-gedruckten Scharniers aus Polyamid. So musste das richtige Maß an Spannung gefunden werden, um einen zufriedenstellenden Öffnungs- und Schließmechanismus für die Titanbügel zu erzeugen sowie ein Gefühl der Ausgewogenheit zu erreichen.
Der Optimierungsprozess geht weiter. „In dieser Saison machen wir einen großen Schritt nach vorn beim Material. Wir stellen auf pa11 um, ein neues Polymer auf Pflanzenbasis, das aus der Rizinusbohne gewonnen wird“, so Zimmermann.
Klassik und Moderne verbinden
Das Design-Team von Maison Jean-François Rey kombinierte 2021 traditionelle, gängige Techniken mit modernem 3D-Druck. Das Ergebnis ist ein schraubenloses Scharnier aus zwei Teilen: eines aus Metall (positive Seite), das andere im 3D-Nylon-Druckverfahren hergestellt (negativer Teil). Die Teile gleiten ineinander.
Die Wahl fiel auf dieses Verfahren, da die Funktionalität des Gelenks Flexibilität, hohe Widerstandsfähigkeit und optimale Reibung erfordert und im Laufe der Zeit nicht verloren gehen darf, und es muss einfach zu bedienen sein. „Die 3D-Drucktechnik ermöglicht diese Art der Formgebung und Montage. Nur so ist diese Art von Scharnier und herzustellen“, ist man sich in Marseille sicher.
Kostspielige Entwicklung
Bis zu drei Jahre kann es dauern, bis ein neu konstruiertes Bügel-Scharnier Marktreife erlangt: Angefangen von der Idee, ihrer Ausarbeitung, den vielen Entwicklungsschritten und Tests bis zu den Prototypen und der Integration in den Produktionsprozess – all das braucht seine Zeit.
„Bei der Entwicklung des Endura-Gelenks waren es eingangs rund 18 verschiedene Konzepte, die wir schnell auf eine Handvoll reduzieren konnten. Der Kunde sieht nur die Spitze eines massiven Eisbergs von Entwicklungen, die durch bessere, stabilere, schönere, einfachere ersetzt wurden“, beschreibt man es bei Mykita. Nicht zu vergessen die Patentierung der technischen Innovation, um den zeitlichen Aufwand zu rechtfertigen und die Investition auch langfristig zu schützen.
Materialien müssen ausprobiert werden, neue Werkzeuge und Maschinen sind notwendig. Roland Keplinger, Design Director bei Silhouette, beschreibt es so: „Die Grundentwicklung kann vielfach mit einfachen Werkzeugen erfolgen, ist daher kostenmäßig überschaubar. Anders die Realisierung, bis die Teile serienmäßig in gleichbleibender Qualität produziert werden können. Die Produktion derart zarter Bauteile benötigt aufwendige und sehr präzise Werkzeuge. Für die Herstellung der biegetechnisch anspruchsvollen Metallteile wurde z.B. eine hochtechnisierte automatische Biegemaschine installiert.“
Neue Anforderungen an Augenoptiker*innen?
Doch wie gut lassen sich solche Scharniere von Augenoptiker*innen in der Praxis handhaben? Ziehen die neuen Konstruktionen womöglich komplizierte Arbeitsschritte nach sich, wenn z.B. die Gangregulierung justiert oder ein Bügel ausgetauscht werden muss? Das Einschicken zum Hersteller würde den Servicevorteil vor Ort erheblich mindern.
Auch hier haben die Scharnier-Experten an einfachen Lösungen gearbeitet, die je nach Konstruktion gänzlich ohne oder mit dem üblichen Werkzeug auskommen. Markus Temming: „Bei der Entwicklung unserer Fassungen haben wir die Anforderungen der Augenoptiker im Blick. Bei der Dot-Kollektion war es uns wichtig, dass der Bügelaustausch ohne Spezialwerkzeuge durchgeführt werden kann.“ Für Verglasung und Bügelwechsel werden Augenoptiker*innen mit Bild- und Videomaterial unterstützt.
Rolf Spectacles bittet seinen Partnern Scharnier-Schulungen an, We are Annu liefert ein spezielles Werkzeug-Tool mit. Gangregulierungen sind je nach Hersteller entweder gar nicht erforderlich oder schon mit etwas Nachfetten erledigt.
Die Vorteile solcher smarten Verbindungen für Augenoptiker*innen: Sie benötigen weniger bis gar keine Ersatzteile. Eigenschaften wie Wartungsfreiheit, längere Haltbarkeit und Belastungsdauer der Scharniere tragen im besten Fall zu einer höheren Produktqualität und Kundenzufriedenheit bei. Fehlende Schräubchen jedenfalls sind hier endgültig passé. Ja mehr noch: Hier ist nie mehr eine Schraube locker.
/// PE
Highlights aus der Scharnier-History
Markus T: Design Classic
1997 startete Markus Temming mit der „Design Classic“: Gefertigt aus einem Stück Titandraht mit einer schraubenlosen Steckverbindung des Scharniers – bis heute Markenzeichen der Manufaktur.
Silhouette: TMA
1999 bringt Silhouette die 1,8 Gramm leichte „Titan Minimal Art“ heraus, die erste schrauben- und scharnier-lose Brille. 2013 wurde die Neuinterpretation „Titan Minimal Art. The Icon“ eingeführt.
Mykita: Spirlagelenk
Mit der ersten Kollektion NO1 von Mykita wurde 2004 das ikonische Spiralgelenk eingeführt, das heute wie damals funktionales Designelement und unverkennbares Markenzeichen der Berliner ist.
/// PE
Artikel aus der eyebizz 5.2022 (August/September)
Mehr Marken mit schraubenlosen Scharnieren finden Sie im eyebizz DesignSpecial „Smarte Scharniere – Um die Ecke gedacht“ (PDF, eyebizz 5.2022)