Wer kennt noch Martin Schulz? Die Erinnerung ist fast verblasst. Der Mann war langjähriger Bürgermeister von Würselen (1987-1998), baden gegangener SPD-Kanzlerkandidat und vor allem wackerer Kämpfer für Europa. Unermüdlich trommelte er für eine starke Europäische Union. Was in seine Politiker-Biografie aber ebenso Einzug halten muss, nur kaum einer weiß: Schulz hatte auch eine vehemente Vision als Brillenträger. Und die hieß Doppelsteg-Brille.
Als er 2012 sein Amt als Präsident des Europäischen Parlaments antrat, setzte er in Straßburg modisch ein Zeichen, das leider von den 751 Parlamentariern ebenso wenig bemerkt wurde wie von der Presse und dem ignoranten Rest der Welt. Schulz trug eine „Double Bridge“-Brille mit großen Gläsern und dünnem Rand mit einer Selbstverständlichkeit, die wahre Durchsetzungskraft und Persönlichkeitsstärke vermuten ließ. Denn die Entscheidung für dieses Modell war damals gewiss nicht im Einvernehmen mit dem Zeitgeist.
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Doppelsteg-Brille: ein Hit in den 70ern und 80ern
Allenfalls in den 70er- und frühen 80er-Jahren hatten die Doppler, die auf magische Weise lange Nasen kürzen und kurze verlängern, ihre Blütezeit. Helmut Kohl trug sie in mit flachen Gläsern, Derrick alias Horst Tappert zusammen mit seiner schussbereiten Pistole. Der Leumund der Doppelsteg-Brille war damals so gigantisch gut, dass nicht nur mutmaßliche Spießer danach griffen, sondern auch vermeintlich Unangepasste sie ohne Zögern aufsetzten – wie der wilde Götz George als Schimanski. Für Nachgeborene: Derrick und Schimanski waren TV-Kommissare, als man Artikel wie diese noch auf der Schreibmaschine tippte.
Nun sind Brillen mit Doppelsteg wieder aufgetaucht – man darf sagen mit Vehemenz. Seit drei Jahren kommt kein Brillentrend-Ranking mehr ohne ihre Erwähnung aus. In Luxemburg, so berichtete eine Augenoptikerin im Netz, laufen diese Brillen wie geschnittenes Brot. Prominente wie It-Girl Jana Ina Zarella, die Schauspielerinnen Sophia Thomalla und Kate Hudson oder die Influencerin Kendall Jenner tragen sie offensiv. Und kleckern dann nicht: Doppelsteg mit Tropfenform, goldglänzenden Details, buntem Glas mit Farbverlauf und ähnlichen Sperenzchen mehr. Was erwähnenswert ist, denn bislang galt der Doppelsteg eher als Männerding.
Doppelte Coolness
Auch Marketingabteilungen sind jetzt ganz irre geworden, wenn sie die neuesten Modelle anpreisen. Ein doppelter Steg steht für „doppelte Coolness“, heißt es da, folglich ist eine Brille ohne Steg überhaupt nicht cool. Stimmt: Sie zerfällt ja dann in zwei Teile. Etwas blöd ist auch der Slogan „doppelt hält besser“. Als ob Augenoptiker wirklich so schlecht arbeiten würden, dass ein einziger Steg nicht genügt, um eine Fassung ausreichend zu halten.
Doch verheddern wir uns nicht in Kleinigkeiten. Das Bohei um Doppelsteg-Brillen hilft so oder so. Den Herstellern. Den Augenoptikern. Doch wo ist Martin Schulz? Mit Doppelsteg auf der Nase wurde er schon lange nicht mehr gesichtet – wenn überhaupt. Offenkundig hat er das Brillenmodell gewechselt. Ein Fehler.
Irgendwie kommt der Mann immer zu früh oder zu spät, das macht ihn tragisch, aber auch sympathisch, doch jetzt brauchen wir ihn – richtig: doppelt dringend. Denn am vergangenen Sonntag, dem 26. Mai, war Europawahl. Und zu Ehren von Schulz, dem vergessenen Branchen-Trendsetter, sollte man dieses besondere Datum zum offiziellen Tag der Doppelsteg-Brille machen!