Ende Januar konnte der Leiter Wissenschaft der Fielmann Akademie Schloss Plön, Prof. Dr. med. Dipl.-Ing. (FH) Hans-Jürgen Grein, rund 100 Gäste zum 48. Kolloquium begrüßen, die der Einladung gefolgt waren, tiefer in das Themengebiet der Funktionaloptometrie einzutauchen. Marlies Mahnke, Augenoptikermeisterin und Funktionaloptometristin der BOAF, gestaltete den Abend. Sie ist seit 2011 in eigener funktionaloptometrischer Praxis tätig und gab einen intensiven Einblick in ihren Arbeitsalltag mit z.B. Visualtraining.
„Meistens denken wir im Zusammenhang mit Sehen an den Visus, aber dieser ist nur ein kleiner Teil der Sehfunktionen“, leitete Prof. Grein ein. Sehen sei ein sehr komplexer Prozess, in dem mehrere Systeme eng aufeinander abgestimmt arbeiteten. Dazu gehörten die Informationen beider Augen, Blickbewegungen sowie die Lage im Raum. All dies müsse empfangen, abgeglichen und verarbeitet werden und liefere Input für viele koordinative Aufgaben. Grein verbildlichte diesen Vorgang mit einem präzisen Messsystem, das in einem langen Lernprozess gut eingespielt und kalibriert werden müsse, um korrekt zu arbeiten. Visualtraining biete eine Möglichkeit, das System nachzujustieren.
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Für wen eignet sich Visualtraining?
Marlies Mahnke berichtete, dass Sehprobleme bei Menschen mit und ohne Fehlsichtigkeit bestehen können. Sie arbeite in ihrer Praxis sowohl mit Kindern als auch mit Erwachsenen. Häufig schildern ihre Kunden Konzentrationsprobleme, müde und brennende Augen oder Anstrengungsbeschwerden. Bei Kindern stehen oft Schwierigkeiten beim Lesen und Lernen im Fokus. „Menschen, die in meine Praxis finden, kommen meist nicht auf dem direkten Weg.“ Sie haben in der Regel schon viel versucht, um eine Linderung ihrer Beschwerden zu erfahren. Vor einem optometrischen Visualtraining sei immer eine augenärztliche Untersuchung erforderlich, um pathologische Ursachen für die Seheinschränkungen auszuschließen.
Mahnkes Arbeit mit einem Kunden beginne in dem Augenblick, in dem dieser ihre Praxis betrete. Die Art, wie ein Kunde sich bewege, welche Haltungen er einnehme und wie er gehe, gebe ihr wichtige Informationen über die Basis seiner Sehfähigkeiten. Ein weiterer wesentlicher Aspekt für ihre Tätigkeit sei die Anamnese. Diese unterscheide sich von der klassischen Fragestellung eines Augenoptikers und umfasse als großen Schwerpunkt bei Kindern die Kindesentwicklung.
Im Netzwerk der Sinne
Viele Beschwerden, die das Binokularsehen und damit die Abstimmung von Akkommodation und Vergenz betreffen, haben ihren Ursprung in der Kindheit. Sehen und Bewegung seien eng aneinander gekoppelt. Erst seien Bewegungen die Starthilfe für die visuelle Entwicklung, später ermögliche eine stabile visuelle Wahrnehmung kontrollierte Bewegungen. Fehlen motorische Impulse oder verzögere sich die motorische Entwicklung, beispielsweise durch persistierende Reflexe, erfolge die visuelle Entwicklung ungenügend. Auch im Erwachsenenalter lassen sich reduzierte Sehfunktionen einhergehend mit Resten frühkindlicher Reflexe erkennen, erläuterte Mahnke.
Das Sehsystem sei zum Zeitpunkt der Geburt noch nicht entwickelt, die Fovea centralis noch nicht nachweisbar. Der Visus betrage zu diesem Zeitpunkt etwa 0,1. Zudem können nur Objekte mit hohen Kontrastunterschieden voneinander differenziert werden. Erst mit der Ausbildung der Fovea steige der Visus. Dies bilde zugleich den Grundstein für die neuronale Verknüpfung der Sehimpulse beider Augen und somit für die Fähigkeit, binokular zu sehen. In den ersten zwei Lebensjahren steige der Visus auf 0,5. Im Alter von vier Jahren können Kinder Hell-Dunkel-Kontraste gleichermaßen gut wahrnehmen wie Erwachsene.
Akkommodation und Vergenz
Alle Sehfunktionen entwickelten sich in Abhängigkeit voneinander. Eine wichtige Rolle bei der neuronalen Vernetzung spiele die Auge-Hand-Mund-Koordination ab dem Alter von vier Monaten. Verbesserte Bewegungsfähigkeiten und ein erhöhter Bewegungsradius führen weiterhin dazu, dass die Augen immer koordinierter arbeiten und der Anspruch an Sehschärfe und Vergenz steige. Dies ermögliche wiederum wachsende Fertigkeiten von der Grobmotorik hin zur Feinmotorik. So umfassen Kleinkinder einen Stift mit der kompletten Hand und übermalen die Linien eines Ausmal-Bildes. Mit der feineren Entwicklung des Tastsinns und der besseren Steuerung durch die Augen erfolge die Führung des Stifts mittels Zeigefinger und Daumen. Bilder können ab dieser Entwicklungsstufe sauber ausgemalt werden.
Die Krönung dieses Lernprozesses sei die Fähigkeit des Schreibens. Konnten die Systeme sich nicht optimal ausbilden und aufeinander abstimmen, falle es Kindern schwer, beim Schreiben oder Lesen die Zeile zu halten oder sich dauerhaft zu konzentrieren.
Funktionaloptometrische Untersuchung
Wie lange kann in den Entwicklungsprozess des Sehens eingegriffen werden? Es gebe verschiedene Vorstellungen, wie lange die kritische Phase für die Sehentwicklung andauere. Oft werde ein Lebensalter von sechs bis acht Jahren angegeben. „Das heißt nicht, dass jenseits dieser Phase die Entwicklung des Sehens abgeschlossen ist. Es ist heute durch die Neuropsychologie bewiesen, dass unser Gehirn plastisch ist und lebenslang neue Fähigkeiten erworben werden können.“ Demzufolge bedeute die kritische Phase lediglich, dass es danach schwieriger werde, Gewohnheiten loszulassen und Dinge neu zu lernen. „Das kennen wir alle auch von anderen Situationen aus unserem Alltag.“
Kunden müssen für ein visuelles Training dort abgeholt werden, wo ihre Entwicklung zum Zeitpunkt der Erstvorstellung stehe. Daher schließe Mahnke an die Anamnese immer eine Einschätzung der allgemeinen körperlichen Entwicklung an. Eine ausbalancierte Motorik, eine stabile Körperhaltung sowie ein Gefühl für die beiden Körperhälften und die Kontrolle darüber seien die Basis für den Erfolg eines Visualtrainings. „Ein schönes Bild zur Verdeutlichung dieses Zusammenhangs bietet die Montage einer High-Tech-Kamera auf ein instabiles, schlechtes Stativ. In diesem Kontext nutzt die beste Kamera nichts, da das Stativ jedes Bild verwackelt.“ Finden sich Schwächen „am Stativ“ eines Menschen, könne die Zusammenarbeit mit Osteopathen, Entwicklungs- und Lern-Therapeuten oder spezialisierten Physiotherapeuten sinnvoll sein. Den visuellen Status erhebe Mahnke mittels der weltweit standardisierten OEP-21-Punkte-Analyse.
Trainingskonzepte
Am Ende müssen alle Informationen und Ergebnisse zusammengeführt und ein darauf abgestimmter Trainingsplan erstellt werden. Ein Visualtraining bestehe immer aus Übungen, die alle Sehfunktionen – Blickmotorik, Akkommodation und Vergenz sowie die allgemeine und visuelle Wahrnehmung und das Körperbewusstsein – stimulieren. Der individuelle Befund bestimme den Trainingsschwerpunkt. Darüber hinaus werde, angelehnt an den natürlichen Lernprozess, mit groben bis hin zu immer feiner werdenden Übungen trainiert.
„Der Kunde umfasst im übertragenen Sinn den Stift zunächst mit der ganzen Hand, bis er am Ende sauber, sicher und ausdauernd schreiben kann.“ Bezogen auf das Sehtraining könne dies bedeuten, dass ein Kunde mit schlechter Körperbeherrschung eine Blickfolgeübung zunächst im Liegen erlerne. Dies stelle sicher, dass das Sehen die volle Konzentration erhalte und nicht durch Kompensationsmechanismen der Körperhaltung gestört werde. Schritt für Schritt werde der Schwierigkeitsgrad erhöht, in dem der Kunde zunächst einen Sitz und später einen Stand einnehme, bevor die Fixationsobjekte verkleinert und zusätzliche Anforderungen hinzugefügt werden.
Tipps für die Praxis
Auch ohne die umfassende Ausbildung zum Funktionaloptometristen können Augenoptiker ihren Kunden wertvolle Tipps für die Funktionserhaltung ihres Sehsystems an die Hand geben. Was für Kinder empfohlen werde, sei für Erwachsene nicht minder wichtig: mindestens zwei Stunden Tageslicht pro Tag. Ein guter Anfang könne ein Spaziergang in der Mittagspause sein, der neben dem natürlichen Licht gleich noch Bewegung liefere.
Ein entspanntes Sehen und ein gutes Zusammenspiel von Akkommodation und Vergenz benötigen einen Mindestabstand zum angeblickten Objekt. „Nächste Woche gibt es Zeugnisse, da drucken viele Zeitungen wieder idealisierte Bilder fleißiger Kinder ab. Zu sehen sind oft Kinder, die den Kopf schief und in einem sehr kurzen Abstand über dem Heft halten und vielleicht noch unter Mithilfe der Zunge schreiben. Ich assoziiere mit diesen Bildern nicht fleißig, sondern visuell total gestresst.“ Ein optimaler Naharbeitsabstand entspreche mindestens der Entfernung vom Ellenbogen bis zum ersten Glied des Mittelfingers zwischen Augen und Lesegut. In diese Entfernung gehören Schreibhefte, Bücher, aber auch Smartphone und Tablet, machte Mahnke deutlich.
Bildschirmarbeiter sollten ihren Augen regelmäßig Pausen gönnen. Eine einfache Strategie sei die 20-20-20-Regel. Diese empfehle, alle 20 Minuten für mindestens 20 Sekunden bewusst in eine Entfernung von 20 Fuß zu blicken. 20 Fuß entsprechen einer Entfernung von etwa sechs Metern. Nicht immer reiche dies aus. Es gebe Erkenntnisse, dass viele Menschen während eines langen Tages vor dem Bildschirm ihr Binokularsehen aufgeben. Dies könne jeder selbst ganz leicht prüfen, indem er die Daumen beider Hände in einer Flucht, aber unterschiedlichen Entfernungen vor sich hält. Bei Fixation eines Daumens sollte der andere doppelt wahrgenommen werden. „Durch dieses bewusste Wahrnehmen der physiologischen Diplopie haben Sie Ihrem Sehsystem einen wesentlich wirkungsvolleren Impuls zur Entspannung gegeben, als der oft empfohlene kurze Blick in die Ferne es vermag.“
Das nächste Kolloquium der Fielmann Akademie findet am 29. April 2020 zum Thema „Update Myopie“ statt.